Manche Dinge entziehen sich dem intuitiven Verständnis, weil sie nicht der menschlichen Alltagserfahrung entsprechen. N-dimensionale Räume etwa, obgleich sich wunderbar mit ihnen rechnen lässt, haben schon manchen Physikstudenten an seinem Verstand zweifeln lassen. Ganz ähnlich erging es vielen Journalisten, als zur Hannover Messe 2015 das unter Federführung des ZVEI entstandene Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0, kurz RAMI 4.0, präsentiert wurde. Denn anders als im Anschluss gelegentlich publiziert, handelt es sich mitnichten um die Software, die in künftigen, vollständig vernetzten Fabriken zum Einsatz kommt. RAMI 4.0 beschreibt vielmehr die Architektur, nach der solche Software aufgebaut werden soll. Dennoch ist sie unerlässlich, wenn der reibungslose Austausch von Daten zwischen Maschinen hersteller- und betreiberübergreifend funktionieren soll. Warum eigentlich?
Um den Wert von RAMI 4.0 zu verstehen, ist es hilfreich, sich zunächst in die Denkstrukturen von Informatikern zu versetzen. Sie begreifen sich nämlich nicht nur als Programmierer, die Software-Programme schreiben. Sondern auch als Architekten für komplette IT-Systeme, die alle Aspekte von der Hardware- Ansteuerung bis hin zu Apps umfassen. Die Modelle, mit denen die einzelnen Software-Elemente zueinander in Beziehung gesetzt werden, nennt man Architekturen – ein treffender Begriff, weil er sich zum Programm-Code in etwa verhält, wie der Bauplan eines Hauses zu dessen real-physischer Ausführung. Der Bauplan ist notwendig, damit die einzelnen Software Bausteine später zusammenpassen. Software-Architekturen arbeiten in der Regel mit einem Schichtenmodell: Ganz unten das hardware-nahe Basisbetriebssystem, ganz oben die Benutzeroberfläche, die auf dem Monitor dargestellt wird, dazwischen befinden sich verschiedene Funktionsschichten. Die Architektur definiert auch bereits, wie die einzelnen Schichten miteinander und mit der Außenwelt kommunizieren – Türen und Treppenaufgänge sind also bereits eingeplant.
Während der Schichtenaufbau eines klassischen IT-Systems eindimensional beschrieben werden kann, verfügt RAMI 4.0 über drei Dimensionen. Damit ist es möglich, jeden denkbaren Gegenstand für Industrie 4.0 eindeutig innerhalb des Modells zu verorten. Die erste Dimension („Layer“, dt. Schicht) beschreibt das digitale Abbild der realen Welt der industriellen Fertigung. Sie reicht von einzelnen Gegenständen („Assets“) bis hin zu Geschäftsprozessen („Business“), die virtuell abgebildet werden. In der zweiten Dimension wird der komplette Lebenszyklus eines Produktes abgebildet – von der Entwicklung über die Produktion bis hin zu Nutzung und Wartung. Das ist für künftige industrielle Prozesse entscheidend. So sollen zum Beispiel Daten über den Verschleiß eines realen Maschinenlagers dazu genutzt werden, um das in der Entwicklung verwendete Simulationsprogramm automatisch zu verbessern. Die dritte Dimension zeigt schließlich die Hierarchie-Ebenen einer Produktion („Hierarchy Levels“). Sie reichen über die in der Fertigungsautomatisierung heute verwendeten Ebenen wie Maschine, Anlage oder Fabrik hinaus. Denn zusätzlich verfügt RAMI 4.0 über die Ebene „Connected World“, wichtig etwa, wenn Daten nicht nur zur Selbststeuerung der Produktion, sondern auch für den Logistikfluss zwischen Hersteller und Zulieferer verwendet werden sollen. Und nicht zuletzt das einzelne Produkt – das Werkstück – bekommt eine eigene Ebene, es soll schließlich in der Produktion der Zukunft eine entscheidende Rolle übernehmen und im Extremfall seine eigene Fertigung und Montage selbst steuern (siehe AMPERE 1/2013).
Auf der grünen Wiese ist RAMI 4.0 nicht entstanden, vielmehr lehnt es sich an eine Software-Architektur an, die für intelligente Energienetze bereits existierte. Denn auch in einem Smart Grid ist es entscheidend, dass die reale physische Welt durch die Software abgebildet wird und ein durchgängiger Datenfluss vom Kraftwerk zur Waschmaschine und zurück möglich ist. In einem intensiven Diskussionsprozess, in den viele Mitgliedsunternehmen des ZVEI eingebunden waren, wurde RAMI 4.0 in Anlehnung an das Energie-Modell entwickelt. NEUER OPEN-SOURCE-ANSATZ Der Rahmen steht und wird in Kürze auch als DIN-Spezifikation veröffentlicht. „Nun gilt es, den großen Elefanten in einzelne Scheiben zu zerschneiden“, erläutert Gunther Koschnick, Geschäftsführer des Fachverbands Automation im ZVEI. Sprich: Es müssen sowohl einzelne Teile des Architekturmodells durch Standards exakter beschrieben werden – etwa die für die Kommunikation verwendeten Protokolle – als auch industrie-4.0-konforme Software entwickelt werden, die tatsächlich in künftigen Fabriken verwendet werden kann. Damit es schnell vorangeht, verfolgt der ZVEI mit Unterstützung der RWTH Aachen einen Open-Source-Ansatz. Im Prinzip soll jedes Unternehmen und jede Hochschule an „openAAS“ mitarbeiten können. Wie in einem Puzzle entstünde so in den kommenden Jahren so etwas wie das Betriebssystem für den Industrie-4.0-Shopfloor. „Durch Open Source bündeln wir die Kräfte vieler innovativer deutscher Unternehmen“, erläutert Koschnick. Der Plan passt gut zur mittelständischen Struktur der deutschen und europäischen Wirtschaft. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das US-amerikanische „Industrial Internet Consortium“ (IIC), das Mitte 2015 ebenfalls eine – allerdings eindimensionale – Referenzarchitektur vorgestellt hat. Im IIC haben sich vor allem Großkonzerne zusammengeschlossen, darunter auch einige ZVEI-Mitgliedsunternehmen, vor allem aber IT-Konzerne. Auf Konfrontation ist Koschnick allerdings nicht aus: „Wir stehen in einem konstruktiven Dialog, am Ende wird vieles ohnehin zusammenfließen.“ Im Wettbewerb um die Industriesoftware der Zukunft sieht er allerdings Deutschland vorn: „Wir wissen genau, was in unseren Maschinen und Anlagen auf physikalischer Ebene passiert. RAMI 4.0 bildet genau das in einem abstrakten Modell ab.“ So gesehen, ist das Referenzmodell eigentlich nicht kompliziert, sondern eine deutliche, aber zulässige Vereinfachung der Realität.