E&E:
Sie sind gerade kürzlich für weitere zwei Jahre zum Vorstandsvorsitzenden der Component Obsolescence Group Deutschland (COG) gewählt worden. Haben Sie schon Pläne für diese Zeit?
Ulrich Ermel:
Ja, natürlich. Um eine stärkere Awareness in den Führungsetagen zu erreichen, möchten wir das Thema Obsolescence noch mehr als bisher auch im Controlling etablieren. Gleichzeitig wollen wir als unabhängige Plattform für alle Unternehmen, die das Thema beschäftigt, den offenen Dialog zwischen allen Akteuren weiter intensivieren.
E&E:
Erklärtes Ziel der Component Obsolescence Group (COG) ist es, das Bewusstsein für Obsolescence-Management in die Unternehmensführungen zu tragen. Wie ist dies erreichbar?
Ulrich Ermel:
Um eine stärkere Awareness in den Führungsetagen zu erreichen, möchten wir das Thema Obsolescence noch mehr als bisher auch im Controlling etablieren. Hier haben wir einen wichtigen Hebel. Wenn nicht nur erfasst würde, wie oft Redesigns gemacht werden, sondern auch warum, würde dem Thema Obsolescence in vielen Unternehmen vermutlich weitaus mehr Bedeutung beigemessen, als dies bislang oft noch der Fall ist. Leider wird derzeit in vielen Unternehmen noch viel zu selten hinterfragt, ob die zusätzlichen Kosten durch neue Kundenforderungen, Qualitätsprobleme oder eben wegen Obsolescence zustande gekommen sind. Das ist insofern ärgerlich, dass Obsolescence häufig die Hälfte der gesamten Produktzykluskosten verursacht. Das müssen wir dringend transparent sichtbar machen. Solange dies nicht geschieht, ist den oberen Führungsebenen bedauerlicherweise oft gar nicht bewusst, wie teuer fehlendes Obsolescence-Management kommen kann.
E&E:
Welche Branchen sind von Obsolescence besonders betroffen?
Ulrich Ermel:
Wenn ein bestimmter Flashspeicher nur sechs Monate verfügbar ist, dann können selbst im Consumer-Bereich schon mal Probleme auftreten. Ansonsten gilt: Je länger die Produktzykluszeiten einer Branche, desto stärker leidet sie unter der Obsolescence-Problematik. In der Industrie, der Medizintechnik, der Luft- und Raumfahrt oder im Automobilbereich reden wir von fünf plus x Jahren, im Bahnbereich sind sogar bis zu 50 Jahre möglich. Über so lange Zeiträume wird allerdings kein Halbleiterhersteller der Welt Bauteile vorhalten, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben.
E&E:
Korreliert das Bewusstsein für Verfügbarkeitsplanung in den einzelnen Branchen mit der Standzeit der Endprodukte?
Ulrich Ermel:
In der Vergangenheit war das sicherlich so. Branchen mit besonders langen Produktlebenszyklen, wie zum Beispiel die Bahntechnik oder die Luft- und Raumfahrt haben defacto wesentlich früher und konsequenter auf das Obsolescence-Problem reagiert als andere Marktsegmente und deren Supply Chains. Doch seit Gründung des Component Obsolescence Group Deutschland im Jahr 2005 hat sich auch in vielen anderen Industriezweigen herumgesprochen, dass eine vorausschauende Planung unter Obsolescence-Gesichtspunkten selbst bei Produkten und Anlagen mit vielleicht nur fünf oder zehn Jahren Gesamtlebenszyklus deutlich zur Risiko- und Kostenminimierung betragen kann. Wie sehr dieses Bewusstsein in den letzten Jahren zugenommen hat, lässt sich unter anderem an unser Mitgliederzahl ablesen, die sich in den letzten fünf Jahren von 62 auf aktuell 124 verdoppelt hat.
E&E:
An welchem Punkt der Produktentwicklung steige ich am besten in das Obsolescence-Management ein?
Ulrich Ermel:
Das Beste ist, so frühzeitig wie möglich mit den Lieferanten zu sprechen, idealerweise schon in der Evaluierungsphase Das wird sicher nicht immer gerne gemacht. Denn gibt der Einkauf zu früh zu viele Informationen preis, hat das vielleicht einen negativen Einfluss auf den Preis. Doch selbst wenn das Bauteil am Ende tatsächlich wenige Prozent mehr kosten sollte, ist dies in der Regel immer noch wesentlich günstiger, als wenn man unter Unterständen erst nach Abschluss, Prüfung und Zertifizierung eines sich über Jahre hinziehenden Design von der baldigen Abkündigung eines Bauteils erfährt. Dann wird ist nicht selten richtig teuer.
E&E:
Warum werden diese Aspekte oft nicht frühzeitig bedacht?
Ulrich Ermel:
Einer der Hauptgründe dafür dürfte sein, dass sich viele Entwickler und Einkäufer dieser Aspekte nach wie vor gar nicht so richtig bewusst sind. In der Regel stehen heutzutage erfahrungsgemäß erst einmal Funktion, Schnelligkeit und Preis im Vordergrund. Das Thema TCO (Total Cost of Ownership) interessiert in dieser Phase leider meist viel zu wenig. Gerade an der Stelle gilt es, mehr Bewusstsein zu schaffen. Ein weiterer Grund ist, dass Entwickler gerne auf vertraute Architekturen und Komponenten zurückgreifen. Hier lohnt es sich, häufiger nach besseren oder gleichwertigen Alternativen, die noch am Beginn ihres Lebenszyklus stehen, zu suchen. Auch wenn dadurch eventuell ein neues oder geändertes Design nötig wird: Das ist ein zusätzlicher Aufwand, der sich am Ende lohnt. Manche Konzerne etablieren inzwischen teilweise sogar extra Innovationszentren, um sich so von Althergebrachtem zu lösen und Neues zu schaffen.
E&E:
Welche Rolle spielen Distributoren beim Obsolescence-Management? Sitzen die nicht an einer Schlüsselposition?
Ulrich Ermel:
Genau so ist es. Diejenigen Distributoren, die Mitglied in der COG sind, beschäftigen sich natürlich intensiv mit dem Thema. Aber ansonsten sind es noch viel zu wenige, die bislang den immensen Mehrwert erkannt haben, den sie ihren Kunden hier bieten können. Wenn Distributoren beispielsweise Daten zur Verfügung stellen, die so nicht im Datenblatt stehen, könnte dies doch ein spannendes Alleinstellungsmerkmal sein. Wie lange ist ein Bauteil schon auf dem Markt? Wie lange ist es noch auf dem Markt? Wie lange kann ich mich auf Herstellerunterstützung verlassen? All das sind Informationen, die Anwendern ihre Planungen erheblich erleichtern könnten.
E&E:
Woran liegt diese Zurückhaltung der Distribution?
Ulrich Ermel:
Zum einen ist das Thema hier teilweise einfach noch nicht angekommen. Zum anderen gibt es aber wohl auch Ängste, durch das promoten neuer Lösungen das bestehende Geschäft zu kannibalisieren. Und das zu viel Transparenz in Obsolescence-Fragen zu Unstimmigkeiten mit einzelnen Herstellern führen könnte. Hier müssen wir aufklären und die Vorteile für alle Seiten klar kommunizieren.
E&E:
Sollten in der Entwicklung oder im Einkauf die Ressourcen fehlen, um Obsolescence-Management bzw. -Planung ausreichend zu berücksichtigen: Welche Möglichkeiten gibt es für das Outsourcing solcher Aufgaben?
Ulrich Ermel:
Das kommt ganz darauf an, was beziehungsweise wie viel das einzelne Unternehmen an Unterstützung benötigt. Wichtig ist erst einmal nur, dass in den Design-Regeln eine Prüfung auf Obsolescence-Aspekte vorgesehen ist. Wo und in welcher Form diese Prüfung dann sinnvollerweise erfolgt, hängt letztlich sicherlich auch von der jeweiligen Applikation ab. Das muss nicht der einzelne Hardwareingenieur leisten. In der COG finden interessierte Firmen neben diversen Datenbankanbietern und Beratungsfirmen beispielsweise auch EMS-Unternehmen, die ein Entwicklungskonzept auf Anfrage gerne überprüfen und natürlich auch Distributoren, die diese Aufgaben übernehmen können.
E&E:
Werden Obsolescence-Management-Pläne immer von Entwicklungsingenieuren mit erstellt und gepflegt oder braucht es hier spezielle Experten?
Ulrich Ermel:
Wer sein Obsolescence-Management vernachlässigt hat, steht nicht selten irgendwann mit dem Rücken zur Wand. Da werden dann für dringend benötigte abgekündigte Bauteile, die über die normale Supply Chain nicht mehr erhältlich sind, manchmal horrende Beträge gezahlt. Das lockt seit einigen Jahren zunehmend kriminelle Nachahmer aus Asien und Afrika aufs Parkett. Interessanterweise folgt einem dringenden Bedarf fast immer auch ein entsprechendes Angebot, nur wenn man nicht genau weiß, was einem hier aus welcher Quelle angeboten wird, kommt das russischem Roulette gleich. Gefälscht wird heutzutage fast alles, und ein Gerät, um Bauteile zu bedrucken, kostet gerade einmal ein paar Euro. Selbst wenn nur Consumer- zu Industrial-Templates umgelabeled werden, kann das für den Anwender fatale Folgen haben. Deshalb Finger weg von Bauteilen aus fragwürdigen Quellen.
E&E:
Im Dunstkreis der Obsolescence wird auch immer wieder über gefälschte oder verfälschte Bauteile gesprochen. Wie hängen diese Themen zusammen?
Ulrich Ermel:
Das wird von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich gehandhabt. Manche Firmen haben inzwischen eigene Obsolescence-Management-Abteilungen im Einkauf angesiedelt. Gerade in der Bahntechnik ist das sehr gängig. In anderen Unternehmen ist wiederum eher das Produktmanagement oder das Engineering für das Obsolescence-Management zuständig. Wie auch immer: Wichtig ist vor allem, dass jemand dediziert hierfür abgestellt ist. Das ist kein Job, den ein Mitarbeiter welcher Abteilung auch immer einfach mal nur so nebenbei mitmachen kann. Das geht erfahrungsgemäß fast immer schief. Deshalb wäre der Idealfall natürlich auch ein Top-Down-Ansatz.
E&E:
Was raten Sie Entwicklern oder Einkäufern, die das Thema Obsolescence angehen möchten? Welche ersten Schritte empfehlen Sie?
Ulrich Ermel:
Das wichtigste ist der Austausch mit anderen Betroffenen. Die COG ist hierfür sicherlich eine ideale Plattform. Auf jeden Fall sollten Sie mit Leuten sprechen, die schon Obsolescence-Erfahrung haben, am besten kommen diese aus derselben Branche. Das spart viel Zeit und Nerven. Sich dem komplexen Thema ganz alleine und von Null annähern zu wollen, ist eine sehr zeitaufwändige Aufgabe.