In der Polymerchemie gibt es eine sehr junge Werkstoffgruppe mit enorm großem Anwendungspotenzial: sogenannte organische 2D-Polymere. Ob in der Optik, der Elektronik oder Batteriechemie und Katalyse, der Physik oder Biologie – die Einsatzgebiete für diese besonderen einlagigen Materialien sind vielfältig. Das Besondere an ihnen: sie lassen sich auch nachträglich noch anwendungsoptimiert funktionalisieren und formieren, sei es für den Einsatz als Schaltelement, als Lichtsammler oder als Biomembran. Die Komposition, Funktionalisierung und Stapelung von organischen 2D-Polymerschichten ist allerdings nicht einfach zu kontrollieren und muss daher bis ins kleinste Detail überprüft werden.
Professorin Ute Kaiser, Leiterin der Arbeitsgruppe Materialwissenschaftliche Elektronenmikroskopie an der Universität Ulm, sagt: „Organische 2D-Polymere sind sozusagen die ,jungen Wilden‘ unter den Polymeren. Sie machen ein bisschen, was sie wollen und reagieren sehr empfindlich darauf, wenn man ihnen analytisch auf die Pelle rückt.“
Auf Grund unterschiedlicher Bindungsarten und -eigenschaften gestalten sich die molekularen Interaktionen organischer 2D-Polymere viel komplexer und störempfindlicher. Bislang war es kaum möglich, solche Materialien elektronenmikroskopisch mit ausreichender Auflösung auf atomarer Ebene zu charakterisieren. „Das Problem besteht darin, dass die abbildenden Elektronen mit den Atomen der Polymerschicht in Wechselwirkung treten und diese beschädigen oder sogar vollständig zerstören können“, erklärt die Physikerin.
Untersuchung von 2D-Polymeren in atomare Auflösung
Einem Forschungsteam aus Kaisers Arbeitsgruppe ist es in Zusammenarbeit mit Forschenden aus Dresden, Halle und Leipzig sowie aus Guangzhou und Jinan (beides China) nun erstmals gelungen, 2D-Polymere in nahezu atomarer Auflösung an einem Transmissionselektronenmikroskop (TEM) zu untersuchen, ohne das 2D-Material zu beschädigen oder in der Zusammensetzung zu verändern.
Zum Einsatz kam dabei das Mikroskop Titan der Universität Ulm, ein sogenanntes hochauflösendes und Bildfehler-korrigiertes Transmissionselektronenmikroskop. Für ihre materialwissenschaftlichen Untersuchungen haben die Forschenden die Beschleunigungsspannung und Anzahl der Elektronen systematisch variiert, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen sich maximale Bildqualität bei minimalen Elektronenstrahlenschäden realisieren lässt.
Üblicherweise werden für die transmissionselektronenmikroskopische Abbildung organischer Materialien Elektronenstrahlen mit höherer Energie (300 keV) verwendet. Die Ulmer Physikerinnen und Physiker haben für ihre Studie nun einen Niederspannungsansatz verfolgt, kombiniert mit einer Niedrigdosistechnik.
„Wir haben die Energie der Elektronen systematisch von 300 keV bis auf 80 keV reduziert und dabei herausgefunden, dass 120 keV – bei gleichzeitiger Reduktion der Elektronenanzahl – die höchstmögliche Auflösung in der Abbildung bringt“, erklärt Dr. Haoyuan Qi, Gruppenleiter in der Ulmer Arbeitsgruppe Materialwissenschaftlichen Elektronenmikroskopie.
In kristallinen Polymeren lassen sich Strukturdefekte leichter aufdecken
Für die Untersuchung haben sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem Trick beholfen. Um überhaupt herausfinden zu können, ob die elektronenmikroskopischen Aufnahmebedingungen das Material schädigen oder in seiner Struktur verändern, wurden im ersten Schritt 2D-Polymere verwendet, die eine kristalline Struktur herausbilden (hierfür wurden BPDA-Monomere mit TAPP-Monomeren kombiniert). Dabei bilden sich absolut regelmäßige Feinstrukturen heraus, die gut zu erkennen und nachzuvollziehen sind. Elektronenstrahl-bedingte Defekte und Schäden konnten bei diesen kristallinen Polymeren als Unregelmäßigkeiten und Musterabweichungen schnell aufgedeckt werden. Dabei half den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch ein neues KI-basiertes Auswertungssystem.
„Nachdem wir die besten technischen Abbildungsvoraussetzungen ermittelt haben, um kristalline 2D-Polymere im Originalzustand zu analysieren, wurden diese im zweiten Schritt auf die Untersuchung von amorphen 2D-Polymeren übertragen“, erläutert die Ulmer Doktorandin Baokun Liang, Erstautorin der Studie. Diese amorphen Polymere sind aus ähnlich empfindlichen, aber asymmetrischen Monomeren (DhTPA, ebenfalls kombiniert mit TAPP) aufgebaut, die allerdings in der Nahordnung keine geordneten Strukturen bilden, sondern eher unregelmäßige Muster. Schließlich wurden diese amorphen 2D-Polymere mit dem TEM auf molekulare Defekte hin untersucht.
Auflösungsrekorde sind kein Selbstzweck
„Es geht in unserer Forschung immer auch darum, Auflösungsrekorde aufzustellen. Diese sind allerdings kein Selbstzweck. Uns ist es nun gelungen, bei einer niedrigeren Beschleunigungsspannung die Auflösung enorm zu erhöhen. So erhalten wir erstmals ein kontrastreiches, detailliertes Bild der Struktur dünner organischer Polymerschichten und zwar auf nahezu atomarer Ebene“, fasst Kaiser die Studie zusammen. Die Arbeit des deutsch-chinesischen Forschungsteams macht es also möglich, molekulare Defekte zu erkennen, die entscheidenden Einfluss auf die Materialeigenschaften und damit auf die Einsatzmöglichkeiten haben.
Die neuartigen 2D-Polymere für die Studie wurden an der Sun-Yat-sen-Universität und der TU Dresden synthetisiert. In Dresden wurden auch die Berechnungen zu den quantenmechanischen Eigenschaften der Defektstrukturen durchgeführt. Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und im Rahmen von Horizon 2020 von der Europäischen Union.