Chemieanlagen digitalisieren Papierflut ade!

Eine Anlage zu dokumentieren, artet oftmals in Papierchaos aus. Durch IT-Lösungen und die Anbindung an das Internet der Dinge ergeben sich jedoch ganz neue Möglichkeiten.

Bild: iStock, alphaspirit
19.03.2019

Zehn Ordner voll Papier, dazu USB-Sticks und CDs mit veralteten Informationen, zusätzlich noch digital abgelegte Daten auf unterschiedlichen Servern: Allzu oft sieht so die Dokumentation einer Chemieanlage aus. Intelligente Software kann hier Abhilfe schaffen, Verbesserungspotenziale heben und die Anlagensicherheit erhöhen.

Systematische Anlagendokumentation gehört zu jenen Routinen, die Industrieunternehmen dabei unterstützen, ihre Dokumentationspflichten als Betreiber einzuhalten und anfallende Modifikationen an bestehenden Produktionsanlagen zu beschleunigen. Durch den Einsatz von IT-Lösungen und die Anbindung an das Internet der Dinge ergeben sich zudem ganz neue Möglichkeiten, Standardabläufe zu optimieren und die Prozesseffizienz zu steigern.

Aus der analogen Papierwelt ins digitale Zeitalter

Genau hier setzt auch Bilfinger mit seiner Software Pidgraph an. Sie trägt dazu bei, ausschließlich auf Papier oder als PDF vorliegende Rohrleitungs- und Instrumentenfließschema zu digitalisieren, die R&I oder englisch P&IDs genannt werden. Die daraus resultierenden XML-Daten bilden die Grundlage, um digitale Zwillinge von Maschinen und Anlagen eines Chemieparks zu erstellen und somit eine Anlagendokumentation auf dem neuesten technischen Stand zu etablieren. „Mit Pidgraph schaffen wir spürbaren Mehrwert für unsere Kunden. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz erhöhen wir die Sicherheit von Anlagen, identifizieren Potenziale zur Optimierung und senken die Kosten“, sagt Franz Braun, Chief Digital Officer bei Bilfinger.

Aktuell liegen Anlageninformationen in Unternehmen oft dezentral, teils in Papierform und häufig in veraltetem Zustand vor. Zudem ist der Zugriff auf diese Dokumente nicht immer gewährleistet. Gerade die wichtigsten Dokumente, die P&IDs, werden üblicherweise in der Anlagenplanung erstellt und danach abgelegt – für andere Bereiche, etwa die Instandhaltung, ist es jedoch oft nicht einfach, bei Bedarf auf die Dokumente zuzugreifen, um sie etwa auf dem neuesten Stand zu halten.

Liegen die Daten hingegen digital und intelligent miteinander verknüpft vor, wie es bei einem digitalen Anlagenzwilling der Fall ist, wird automatisch der Zugriff auf die aktuellen Infos für alle Beteiligten beschleunigt. Das verbessert die Prozesstransparenz und -effizienz. Informationen auf dem aktuellsten Stand sind insbesondere unter dem Aspekt der Anlagensicherheit unverzichtbar, wenn Arbeiten an der Anlage selbst vorgenommen werden müssen.

Ein weiterer Punkt ist der Umgang mit vorhandenen Optimierungspotenzialen: Wenn Anlageninformationen nur auf Papier und rein deskriptiv als unverbundene Daten vorliegen, können Potenziale zur Anlagenoptimierung in der Regel gar nicht erkannt und nutzbar gemacht werden. Hinzu kommen lange Suchzeiten zur Informationsbeschaffung und weniger Effizienz in der Maintenance-Abteilung, die auf veraltete Informationen zugreift oder lange nach den aktuellen suchen muss. Zudem erfordert die Digitalisierung in der betrieblichen Praxis von Chemieanlagen eine ganzheitliche Sichtweise. Viele Unternehmen bauen zwar Sensoren in bestehende Systeme ein oder installieren neue Analysesoftware. Gleichzeitig vernachlässigen sie aber die Digitalisierung bestehender Informationen wegen des hohen Aufwands – ein Missstand, der sich mithilfe von Pidgraph ausräumen lässt.

Künstliche Intelligenz macht den Unterschied

Damit eine fortschrittliche und transparente Anlagendigitalisierung gelingt, überführt Pidgraph vorhandene P&ID-Schemata aus der Papierform oder aus diversen Dateiformaten wie PDF oder PNG in eine intelligent verknüpfbare digitale Form. „Auf diese Weise sind Kosteneinsparungen von mindestens 50 Prozent möglich“, erklärt Martin Bergmann, Innovation and Product Manager bei der Bilfinger Digital Next.

Möglich werden diese Einsparungen durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI): Mithilfe von Deep-Learning-Methoden lernt die Software aus der Erfahrung und wird kontinuierlich besser. Zunächst zerlegt Pidgraph das P&ID in einen Graphen, bestehend aus Knoten und Kanten. Knoten sind dabei relevante Formen eines Symbols, etwa ein Behälter. Kanten dagegen repräsentieren die Verbindung zwischen den Knoten, etwa Rohrleitungen. Im nächsten Schritt erfolgt ein Abgleich der Knotenformen mit einer konfigurierbaren Objektdatenbank – ein Prozessschritt, der auf den angesprochenen Deep-Learning-Algorithmen beruht.

Die Erfahrung zeigt, dass das Programm nicht jedes Symbol eindeutig erkennt. „Es kann passieren, dass das System unsicher ist und für mögliche zwei Objektarten votiert“, erklärt Martin Bergmann. „Für diesen Fall bauen wir eine Feedbackschleife ein und der Anwender entscheidet, was richtig ist.“ Dadurch lernt das System sukzessive, die Symbole immer treffsicherer zu unterscheiden. Das Ausgabeformat ist unter anderem eine XML-Datei entsprechend des ISO-15926-Standards gemäß der DEXPI-Initiative. Damit ist die größtmögliche Kompatibilität mit gängigen Engineering-Tools gewährleistet.

Vorreitertechnologie mit Zukunftspotenzial

In der betrieblichen Praxis liegt der Schwerpunkt derzeit darauf, P&IDs von sogenannten Brownfield-Anlagen – also von vorhandenen Objekten – zu digitalisieren. Doch damit ist das Ende noch längst nicht erreicht: Auch bei der Planung neuer, sogenannter Greenfield-Anlagen oder von Anlagenteilen hilft Pidgraph weiter. Denn bislang erstellen Planungsingenieure und Verfahrenstechniker die Entwürfe oftmals nach wie vor von Hand oder mithilfe von Schablonen auf Papier. Nach dem aktuellen Prozedere müsste der Ingenieur im Anschluss seinen Papierentwurf am Computer neu zeichnen. Allerdings ist Pidgraph in der Lage, auch diesen Arbeitsschritt durch das Einscannen und Weiterverarbeiten des Papierentwurfs signifikant zu vereinfachen und zu beschleunigen. Die resultierende XML-Datei kann dann in die Zeichensoftware des Ingenieurs importiert werden.

Perspektivisch könnte der KI-Ansatz, der in Pidgraph integriert ist, dazu beitragen, dass das Tool die Funktion eines Engineering Assistant übernimmt und in der Lage sein wird, selbstständig Korrekturvorschläge zu entwickeln und auszuführen. Die Software lernt dann nicht nur, Symbole zu unterscheiden, sondern lernt auch die logische Verknüpfung zwischen diesen Symbolen. Zum Beispiel: Nach der Pumpe kommt immer ein Ventil. Das bringt einen großen Vorteil mit sich. Sollte bei der Zeichnung einmal ein Bauteil vergessen werden, kann Pidgraph dies in Zukunft erkennen und dem Anwender einen Hinweis geben. Entsprechende KI-basierte Verfahren bieten also grundsätzlich eine Basis für weitergehende Anwendungen wie die digitale Abbildung von Stromlaufplänen. Voraussetzung dafür ist, dass die KI für die neuen Pläne eigens trainiert wird.

Für die Zukunft steht die Frage im Raum, wie alle anderen Anlagendokumente digitalisiert und intelligent verknüpft werden können. Für eine im P&ID verzeichnete Pumpe sind beispielsweise noch weitere Dokumente wie eine technische Zeichnung, eine Anleitung oder Zertifikate erfasst. Vieles davon liegt ausschließlich gedruckt und in physischen Ordnern vor. Ziel müsste es also sein, diese Ordner einzuscannen, damit die KI die Dokumente automatisch erkennen und dem entsprechenden Bauteil zuordnen kann. Zum Abschluss sollten all diese Infos etwa im Digitalen Zwilling durch einen Klick auf das betreffende Bauteil angezeigt werden. „Diese automatische Klassifizierung befindet sich zurzeit bei Bilfinger in einer frühen Entwicklungsphase“, erklärt Bergmann. „Die entscheidenden Weichen sind bereits gestellt.“

Bildergalerie

  • Anlagendokumentation: Mit einem Tool lassen sich auf Papier oder als PDF vorliegende Rohrleitungs- und Instrumentenfließschema digitalisieren.

    Anlagendokumentation: Mit einem Tool lassen sich auf Papier oder als PDF vorliegende Rohrleitungs- und Instrumentenfließschema digitalisieren.

    Bild: Bilfinger

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