Der Mittelstand hat viele Baustellen „Mittelständler geradezu im Mittelalter stehengeblieben“

Baustellen im Mittelstand: Management-Expertin Jane Enny van Lambalgen kritisiert Investitionsstau, veraltete Prozesse und mangelnde Digitalisierung in vielen Unternehmen – und warnt vor den Folgen.

Bild: iStock, EyeEm Mobile GmbH
19.11.2024

„Der deutsche Mittelstand geht mit vielen Baustellen ins Jahr 2025“, sagt Jane Enny van Lambalgen, CEO der Beratungs- und Managementfirma Planet Industrial Excellence. Sie zählt auf: Ein enormer Investitionsstau, wenig optimierte Betriebsabläufe, ein häufig mangelhafter Vertrieb, geringes Markenbewusstsein, eine nur gering entwickelte Digitalisierung und kaum Kompetenz beim Einsatz Künstlicher Intelligenz.

„Natürlich leidet nicht jeder Mittelständler unter all diesen Mängeln, aber sehr viele mittelständische Firmen haben gleich auf mehreren dieser Gebiete einen erheblichen Nachholbedarf“, stellt die Management-Beraterin fest. Jane Enny van Lambalgen spricht aus der Praxis: Sie wird regelmäßig von Firmen an die „Baustellen“ vor Ort geholt, „häufig allerdings erst, wenn diese so groß geworden sind, dass der Fortbestand des Unternehmens gefährdet ist.“

Sie sagt: „Gelegentlich stoße ich auf ein ERP-System, das seit 20 Jahren läuft, ohne dass jemals eine nennenswerte Aktualisierung erfolgt ist. Erst im Zuge der neuen Compliance-Regeln von ESG bis Cyberresilience fällt auf, dass der Betrieb so gar nicht mehr fortgeführt werden kann, ohne massiv gegen die geltende Gesetzgebung zu verstoßen.“ In diesen Fällen ist die Einführung eines modernen Systems für Enterprise Resource Planning (ERP) die erste Maßnahme zur Firmenrettung, erklärt die Management-Expertin: „Schließlich stellt ein ERP-System in der Regel das Herzstück der Digitalisierung in mittelständischen Unternehmen dar.“

Geschäftsprozesse so wenig zeitgemäß wie das ERP-System

Die typischen Funktionen eines ERP-Systems umfassen Finanzbuchhaltung, Warenwirtschaft, Einkauf und Beschaffung, Produktionsplanung, Vertrieb und Kundenmanagement, Personalwesen, Lager und Logistik, Projektmanagement, Berichtswesen und Analytik, Dokumentenmanagement, und Workflow-Automatisierung. „Angesichts des galoppierenden technischen Fortschritts ist manch ein Mittelständler geradezu im Mittelalter stehengeblieben“, wird Jane Enny van Lambalgen deutlich. Sie analysiert: „Das Fatale daran ist, dass oftmals nicht nur die ERP-Funktionalität, sondern auch die damit zusammenhängenden Geschäftsprozesse wenig zeitgemäß sind.“

Die Dokumentation im ERP-System für aktuelle betriebliche Themen wie Arbeitsschutz, Gefahrstoffregulierungen wie RoHS (Restriction of Hazardous Substances), REACH (Regulation on the Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) oder das PFAS-Verbot (Per- and polyfluoroalkyl Substances) sowie die CE-, UL-, oder ATEX-Zertifizierungen (Conformité Européenne, Underwriters Laboratories, Atmosphères Explosibles), die Lieferkettendokumentation und Nachhaltig­keit sei höchstens rudimentär vorhanden. „Risikomanagement in diesen Bereichen ist für viele kleine und mittelständische Unternehmen noch ein Fremdwort“, weiß Jane Enny van Lambalgen.

Die Management-Expertin differenziert: „Selbstverständlich gibt es auch die Spitzenreiter, die sich nicht nur technologisch, sondern in vielerlei Hinsicht positiv hervorheben. Das sind häufig die Hidden Champions, die teilweise über 70 Prozent Weltmarktanteil in ihrem Segment verfügen. Aber diese Spitzenunternehmen stellen höchstens etwa drei Prozent des deutschen Mittelstands dar.“

Mängel bei Vertrieb und Marketing

Dem Gros der mittelständischen Wirtschaft testiert die Management-Beraterin zudem „Mängel bei Vertrieb und Marketing“. Sie hat bei zahlreichen Firmeneinsetzen festgestellt: „Viele Mittelständler verkaufen ihre Produkte seit Jahren an einen oftmals sehr kleinen Kreis von Abnehmern und sind dadurch in eine fatale Abhängigkeit geraten. Fällt auch nur ein einziger maßgeblicher Kunde aus, etwa wegen Produktionsverlagerungen ins Ausland, gerät der Zulieferer ins Wanken. Wir erleben das derzeit in der Automobilindustrie, aber in vielen anderen Branchen sind die Zustände ähnlich.“ Die abhängigen Unternehmen hätten häufig „gar keinen wirklichen Vertrieb, sondern es werden lediglich Bestellungen abgearbeitet.“

Systematisches Business Development, um neue Kunden oder gar neue Zielgruppen zu erschließen, sei in weiten Teilen des Mittelstands ein Fremdwort, wundert sich Jane Enny van Lambalgen. „Kundendatenbank statt Customer Relationship Management“ findet sie beim Firmeneinsatz oftmals vor. Ebenso wenig ausgeprägt ist nach ihren Erfahrungen häufig das Marketing. „Gelegentliche E-Mail-Kampagnen nach dem Gießkannenprinzip halten viele mittelständische Industriefirmen offenbar für ausreichend“, bemängelt die Management-Beraterin.

„Viele KMUs haben den Begriff ‚Market Intelligence‘ noch nie gehört und können sich gar nicht vorstellen, dass mittels Künstlicher Intelligenz tatsächlich neue Kunden gefunden werden können. Stattdessen wartet der Vertrieb, bis ein Kunde anruft“, hat Jane Enny van Lambalgen in Projekten festgestellt. Die Konsequenzen beschreibt sie wie folgt: „Wenn dadurch der Umsatz zurückgeht, versuchen sich die Firmen mit Preiskämpfen dagegen zu stemmen, weil das Marketing nicht in der Lage ist, die Unique Sellings Points der Produkte hervorzuheben.“ Sie spricht von einer häufig anzutreffenden „toxischen Verbindung zwischen Vertrieb und Umsatz.“

Lesen Sie hier weiter zum Thema Künstliche Intelligenz!

Zunehmende „KI-Durchflutung von unten“ für 2025 erwartet

Die Durchdringung der mittelständischen Wirtschaft mit Künstlicher Intelligenz (KI) findet in erster Linie außerhalb der vorgesehenen Betriebsprozesse statt, hat Jane Enny van Lambalgen bei mehreren Projekteinsätzen festgestellt. Sie beschreibt den Vorgang wie folgt: „Einzelne Beschäftigte nutzen KI-Tools mehr oder minder klammheimlich, um sich ihren Arbeitsalltag zu erleichtern. Das steigert zwar die individuelle Produktivität, birgt jedoch viele Gefahren etwa durch KI-Halluzinationen oder die unzulässige Verwendung personenbezogener Daten, wenn diese beispielsweise in ein US-basiertes KI-System hochgeladen werden.“

Nach Einschätzung der Management-Beraterin wird diese „KI-Durchflutung von unten“ 2025 massiv zunehmen, „weil die KI-Tools immer besser werden und immer mehr Menschen die Vorteile für sich entdecken“. Die „KI-Baustelle“ wird künftig zu den größten Herausforderunten im Mittelstand gehören, ist sich Jane Enny van Lambalgen sicher, „wobei sich die Geschäftsleitung in vielen Firmen dieser Baustelle noch nicht einmal bewusst ist.“

Jane Enny van Lambalgen ist Founding Partner und Geschäftsführerin der Firma Planet Industrial Excellence sowie Mitglied bei United Interim, der führenden Community für Interim Manager im deutschsprachigen Raum, und im Diplomatic Council, einer globalen Denkfabrik mit Beraterstatus bei den Vereinten Nationen (UNO). Für Unternehmen ist sie tätig als Interim Manager für Strategie, Operational Excellence, Turnaround, Supply Chain Management und Digital Transformation. Als Managerin auf Zeit übernimmt sie Positionen als CEO, Managing Director, COO, Delegierte des Verwaltungsrats, Aufsichtsrat und Beirat in der mittelständischen Wirtschaft. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind internationale Operations-Einsätze mit Fokus auf Produktion, Supply Chain und Logistik.

Bildergalerie

  • Jane Enny van Lambalgen, CEO der Beratungs- und Managementfirma Planet Industrial Excellence.

    Jane Enny van Lambalgen, CEO der Beratungs- und Managementfirma Planet Industrial Excellence.

    Bild: Claudia Baumgartner-Brandenberger

Firmen zu diesem Artikel
Verwandte Artikel