„Bisher wird ökologische Nachhaltigkeit recht einseitig auf eine Dekarbonisierung eingeengt, anstatt die ,planetary boundaries‘ mit einzubeziehen. Doch wir standen noch nie gleichzeitig vor derartig vieldimensionalen Herausforderungen“, erklärt Prof. Jens P. Wulfsberg, Präsident der WGP (Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik) und Leiter des Laboratoriums Fertigungstechnik (LaFT) der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Er erklärt weiter: „Sie entstehen durch die Einschränkung bestehender Lieferketten durch Pandemien und geopolitische Einflüsse, die mangelnde Verfügbarkeit bezahlbarer Energie, die Forderung nach ressourcenschonender Produktion und nachhaltigem Konsum und nicht zuletzt durch die abnehmende Zahl qualifizierter Mitarbeiter“, erklärt Wulfsberg weiter.
„Mit Blick auf diese Entwicklungen wird sich unsere Gesellschaft auf Kreislaufwirtschaft bei neuem global gedachten Konsumverständnis umstellen müssen“, prognostiziert Wulfsberg. „Dafür allerdings müssen wir dringend neue Ansätze erforschen, die den neuen Anforderungen über komplette Produktlebenszyklen hinweg gerecht werden. Und das schaffen wir als Produktionstechniker nicht allein. Deshalb haben wir gemeinsam mit der WiGeP und WGMHI zur Veranstaltung eingeladen. Denn ohne den interdisziplinären Ansatz werden wir die Herausforderungen unserer Zeit nicht lösen.“
Produktivität völlig neu denken
Aufgrund der angespannten Lage macht der Begriff Resilienz und krisenfeste Produktion bereits seit geraumer Zeit die Runde. EU-Politiker haben nun den Begriff der „offenen strategischen Autonomie“ geprägt. Er umschreibt das Ziel, das neue System der globalen wirtschaftlichen Governance und Entwicklung durch für beide Seiten vorteilhafte bilaterale Beziehungen zu gestalten.
Gleichzeitig wollen sich die Europäer vor „unlauteren und missbräuchlichen Praktiken“ schützen. Diese neue strategische Ausrichtung würde – auch mit Blick auf den European Green Deal und nationale Regulatorien – die Industrie fundamental verändern.
„Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy sind wirtschaftliche Entwürfe, die wir heute noch zu häufig vom bestehenden Produkt her denken. Hier müssen wir schon vom ersten Entwurf an neue Wege gehen“, mahnt Prof. Kirsten Tracht, Präsidentin der WGMHI (Wissenschaftliche Gesellschaft Montage Handhabung Industrierobotik) und Leiterin des Bime (Institut für Strukturmechanik und Produktionsanlagen) der Universität Bremen. „Wir haben uns deswegen in Kassel zusammengesetzt, um ganzheitliche Ansätze für neue Produkte und Produktionssysteme zu diskutieren und anzustoßen.“
So müssen bereits beim Produktdesign Lösungen gefunden werden, um in Produkten ohne zusätzlichen Einsatz von Ressourcen mehr Funktionalitäten zu implementieren. Unterschiedliche Designs für unterschiedliche Kundenansprüche müssen schon in der Entwicklung mitgedacht werden. „Wir dürfen nicht alle Anstrengungen nur auf die neu zu gestaltenden Produkte und Fertigungssysteme lenken“, erläutert Tracht. „Wir müssen Produkte, Produktion und Produktivität insgesamt völlig neu denken.“
Zugvogeleffizienz als Zielgröße
So kam in einem der Workshops auf der Herbsttagung die Idee der „zugvogeleffizienten“ Herstellung auf. Es handelt sich dabei um ein die gesamte Wertschöpfungskette übergreifendes Energieeffizienzsystem. Zugvögel fliegen für eine maximale Ressourcenschonung in Formation. Jeder Vogel nimmt während seiner Reise über Kontinente hinweg unterschiedliche Positionen ein, die unterschiedlich energieraubend sind – je nach individuellen Kapazitäten.
„So erreicht die Formation maximale Geschwindigkeit, die auch bei einem Wechsel der Formation beibehalten werden kann“, erklärt Tracht. „Die Schwarm- versus individueller Effizienz basiert auf dem Vertrauen in den Schwarm. Analog müssen wir quasi biologisch organisierte Fabriken schaffen, die sich als einen Teil eines übergreifenden Effizienzsystems betrachten und ihre maximalen Kapazitäten dem ,Schwarm‘, also der Wertschöpfungskette, zur Verfügung stellen – angepasst an die jeweiligen Umgebungsbedingungen.“
„Im übertragenen Sinne heißt das: Bei starkem Wind etwa übernimmt ein Schwarmmitglied die Führung, das die in diesem Fall höchsten Kapazitäten mitbringt. Das wiederum heißt auch: Wir brauchen echtzeitfähige Entscheidungsprozesse, damit wir uns auf äußere Bedingungen schnellstmöglich einstellen können“, schlussfolgert Tracht. Ein solches umfassendes Effizienzsystem werden die Forschenden in einer Arbeitsgruppe in den kommenden Wochen ausarbeiten.
Dezentral zugängliche „DNA“ für längere Produktlebensdauer
Neben limitierten Ressourcen machen Klimakrise und umweltpolitische Vorgaben ein Umdenken hin zu einer Sharing Economy mit langlebigeren Produkten dringend notwendig. Die Lebensdauer wird begrenzt durch technische oder funktionale Abnutzung, also etwa, wenn ein technischer Defekt vorliegt oder neuartige Funktionen verfügbar sind. Häufig ist es jedoch auch eine emotionale Entscheidung, ein neues Produkt zu kaufen, weil das alte nicht mehr gefällt.
Soll die Lebensdauer eines Produktes verlängert werden, muss seine Reparaturfähigkeit schon beim Entwickeln mitgedacht werden. Dafür braucht es technologische Lösungen, wie etwa neuartige Fügeverfahren mit besserer Funktionalität für Bauteile, damit sie leicht auseinandergebaut und wieder zusammengefügt werden können. Für eine Wieder- oder Weiterverwendung müssen idealerweise Informationen zu Alter, (Ab-)Nutzung und Zustand der Bauteile elektronisch zur Verfügung stehen.
„Dafür benötigen wir eine dezentral zugängliche ,DNA' der Produktbestandteile, um erkennen zu können, ob einzelne Bauteile oder Module für eine zweite Lebensdauer geeignet sind, oder was getan werden muss, um sie zu ermöglichen. Um nachhaltige Aspekte zu berücksichtigen, bieten sich modulare Konzepte für Produkte an. Es könnten Module identifiziert werden, die etwa nach einer Aufbereitung in neuen Produkten wiederverwendet werden können. Ein Beispiel hierfür sind Akkumodule“, erläutert Prof. Dieter Krause, Präsident der WiGeP (Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktentwicklung) und Leiter des PKT (Instituts für Produktentwicklung und Konstruktionstechnik) an der TU Hamburg.
Bei der Entwicklung von Produkten und Systemen müssen zudem Updates bezüglich der Funktionalitäten oder von Technologien sowie von Software mitgedacht werden: Menschen werfen überholte Waren weg, auch wenn sie noch voll funktionstüchtig sind.
„Nicht zuletzt müssen wir es gemeinsam schaffen, dass Produkte möglichst lange nutzbar bleiben oder verbrauchte Teile leichter ersetzt werden können. Auch ein Wandel hin zu „Pay per Use“-Geschäftsmodellen erhöht die Nutzung der Produkte bei geringerem Ressourcenverbrauch erheblich. Damit sie zum Tragen kommen, brauchen wir allerdings auch einen kulturellen Wandel der Gesellschaft“, so Krause.
Transformation der Industriegesellschaften angehen
Die Produkt- und Produktionsforschenden sind sich klar darüber, dass ihre Forschungen nur einen Teil der Herausforderungen abdecken. Einbezogen werden müssen auch gesellschaftliche und kulturelle Themen: „Wie schaffen wir es zum Beispiel, dass die emotionale Bindung an die Produkte nicht mit zunehmendem Alter stetig sinkt? Wir benötigen hier einen Kulturwechsel. In Japan etwa steigt die Wertschätzung für ein in privater Initiative repariertes Produkt sogar“, berichtet Wulfsberg.
Es gibt also noch sehr viel zu tun und die Zeit drängt. Die in Kassel gebildeten Arbeitsgruppen werden daher im Anschluss an die Herbsttagung weiterarbeiten. „Wir müssen unseren Forscherdrang so schnell wie möglich in Wandlungsimpulse und die Transformation unserer Gesellschaft umzusetzen“, warnt der Präsident der WGP, „denn die multiplen Krisen werden unser aller Leben verändern. Wir brauchen jetzt Antworten darauf, wie wir künftig leben wollen – damit wir noch möglichst viel Einfluss darauf haben.“