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Mega-Projekt „NETZlive“ bei Netze BW Flächendeckende Transparenz im Stromnetz

Netze BW möchte eine flächendeckende Transparenz in ihrem Stromnetz schaffen.

Bild: Netze BW; iStock, kyoshino
04.02.2020

Mithilfe einer umfassenden Digitalisierung will die Netze BW flächendeckende Transparenz in ihrem Stromnetz schaffen. Davon erwartet man sich nachhaltig Vorteile für Betrieb und Ausbauplanung. Auf lange Sicht geht es um die Gewährleistung der Versorgungssicherheit angesichts der fortschreitenden Energie- und Verkehrswende.

Die Digitalisierung hat vielfach längst Einzug gehalten – vom Anschlusswesen über Lieferantenbeziehungen bis zum Personaleinsatz im Betrieb und dem Smart-Meter-Rollout. Im Zentrum steht jedoch das Mega-Projekt „NETZlive“, dessen Horizont bis in die 2030er-Jahre reicht. Konkreter Auslöser dafür waren die seit 2018 geltenden EU-Vorschriften zur GLDPM (Generation and Load Data Provision Methodology). Diese verpflichten Verteilnetzbetreiber (VNB), den vier Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) mit 48 Stunden Vorlauf energieträgerscharfe Einspeise- und Lastprognosen zu liefern. Der Aufwand zur Erhebung und Aufbereitung der Zeitreihen erwies sich bei den betroffenen über 850 Trafos in rund 350 Umspannwerken noch als gut machbar.

Schon Mitte 2018 reifte die Idee, aus dieser Pflicht eine Kür zu machen: Transparenz auch in den unteren Spannungsebenen bietet eine viel präzisere Grundlage, um bei Bedarf rasch steuern zu können. Ein paar Zahlen verdeutlichen den Umfang des Vorhabens: 500.000 Smart Meter, die Netzzustandsdaten liefern können, umfasst allein die Abdeckung der Pflichteinbaufälle. Das Bindeglied zwischen Mittelspannungsebene und den Ortsnetzen bilden weit über 25.000 Trafos im eigenen Anlagenbestand.

NETZzeitreihenauskunft

Die ersten 550 werden seit Mitte 2019 mit einfachen, selbst entwickelten Sensoren ausgestattet. Die wiederum decken 18.000 Messpunkte für die Stromstärke auf „der letzten Meile“ zu den Netzkunden ab und dokumentieren so mögliche Schwachstellen in Verbindung mit dezentraler Einspeisung und/oder E-Mobilität. Schon seit 2017 erheben Lastgangzähler in 50 Ortsnetzstationen zweier 20.000 Volt Schaltkreise in Aitrach und Tannheim Stromstärken und Spannungsqualität. Die Region an der Iller gilt als Hochburg der Fotovoltaik. Immer mehr Daten kommen mit dem Ausbau dieser Messkampagne zusammen, wofür das IT-System der drei Leitstellen nicht ausgelegt ist. So entstand als Basisprodukt von NETZlive die NETZzeitreihenauskunft zur Bündelung und anwenderfreundlichen Bereitstellung.

Selbst entwickelte Datenplattform

Auch mit EU-Vorgaben zum Datenaustausch zwischen Netzebenen und Betreibern zu tun hat der selbst entwickelte NETZmodellkonfigurator. Der Common Grid Model Exchange Standard (CGMES) stand Pate bei dieser Plattform für Daten aus Systemen wie denen der Leitwarten, dem GIS oder SAP. Diese stammen nicht nur von unterschiedlichsten Betriebsmitteln (Trafos, Schalter, Leitungen), sondern auch aus allen drei Spannungsebenen der Netze BW. Mit diesem Ansatz „Puzzle statt Silos“ wird die übergreifende Berechnung von Stromflüssen erheblich erleichtert.
Auf den beiden Basisprodukten lassen sich konkrete Handlungsfelder wie Zustandsschätzungen im Netz aufbauen. Schon deren schiere Zahl macht die komplette Erfassung aller Trafostationen und der Niederspannungsstränge über Messtechnik unmöglich. Auf Basis des bestehenden und auszubauenden Netzes an Messpunkten lassen sich mit Hilfe von Algorithmen jedoch „State estimations“ für vergleichbare Konstellationen errechnen. Die werden Planer zunehmend dabei unterstützen, Ausbaubedarf präzise zu erkennen und priorisieren zu können.

Beschleunigte Abstimmungsprozesse

Mehr Effizienz und Erleichterungen bei Bau und Betrieb verspricht die Plattform im „durchdigitalisierten“ Netz. Ähnlich wie bei Microsoft-Teams erhalten Mitarbeiter der Leitwarten, Betriebsplaner oder Monteure der Bereitschaft in Echtzeit Zugriff auf die Planung von Schaltungen oder Inbetriebnahmeprozessen. So können aufwändige multilaterale Abstimmungsprozesse per Telefon oder Mail entfallen. Noch im ersten Halbjahr 2020 soll die Umstellung beginnen, mit der Schalthandlungen deutlich vereinfacht und noch sicherer werden.

Mit einer deutlich verbesserten und komfortableren NETZengpasserkennung auch im Mittelspannungsnetz knüpft NETZlive am Ursprung, der GLDPM an. Verbindet man die zunehmende Netztransparenz und die betriebliche Erfahrung mit Wettervorhersage und Rechenmodellen, lässt sich Handlungsbedarf früher abschätzen und damit oft vermeiden.

Eine Woche Vorlauf auf wetterbedingte Engpässe

Bei der Netze BW sollen Engpässe aufgrund herannahender Starkwindfronten oder Perioden mit wolkenlosem Himmel bei schwacher Last mit bis zu einer Woche Vorlauf identifiziert werden. So wird wiederum aus der Kür die vorausschauende Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht - der „Redispatch 2.0“. Danach sollen ab Herbst 2021 auch die unteren Spannungsebenen der VNB am Datenaustausch mit den ÜNB für den Redispatchmarkt teilnehmen. Das Ziel lautet: Kostensenkung.

Getreu dem Grundsatz „Puzzle statt Silo“ blickt die Netze BW nicht nur hier über die eigenen Grenzen hinaus: Mit dem ÜNB TransnetBW wurde Anfang 2019 das Projekt DA/RE gestartet, das für DatenAustausch/REdispatch steht. Weitere VNB wie die MVV Netz oder die Stadtwerke Schwäbisch Hall sowie Aggregatoren wie Sonnen haben sich bereits an den Pilotversuchen beteiligt: Über eine Plattformlösung soll transparent werden, welche Einspeiser, Speicher oder große Lasten sich über Spannungsebenen und Netzgrenzen hinweg und damit effizienter zur Stabilisierung des Gesamtsystems einsetzen lassen.

Smart Grids im Labormaßstab

Unabhängig davon entwickelt sich seit 2011 in den NETZlaboren Aktorik, mit der sich Netzausbau überbrücken oder gar vermeiden lässt. Das erste entstand in einem Dorf am Rande der Schwäbischen Alb, wo die PV-Dachanlagen stundenweise viermal mehr Strom einspeisen, als die 200 Einwohner verbrauchen können. Digitale Messtechnik an Hausanschlüssen und Netzknoten, ein sich selbst regelnder Ortsnetztrafo (rONT), ein 30 kWh Batteriespeicher und zur Steuerung eine innovative Software kamen zum Einsatz. So gelang es schließlich, Spannungsbandverletzungen automatisiert zu vermeiden.

In Boxberg sowie Stockach testete die Netze BW erfolgreich den netzdienlichen Einsatz alter Speicherheizungen. Insbesondere gelang es, die Funktionsfähigkeit der Netzampel in Kooperation mit zwei Lieferanten nachzuweisen, die folgendes vorgibt: Grün = „Freie Fahrt“, also freies Laden der Speicher. Rot = Blockade bei akut drohendem Netzengpass. Am spannendsten Gelb = Engpass durch netzdienliche Steuerung seitens der Lieferanten vermeidbar.

Die Ampellogik stand auch im Mittelpunkt von Grid
Control im südbadischen Freiamt, wo neben vielen
PV-Dächern eine Windanlage stundenweise für einen vielfachen Stromüberschuss sorgt. Erprobt wurde dort erstmals, wie Verteilnetz, regionale Stromerzeugung, steuerbare Verbraucher und Marktteilnehmer automatisiert für Netzstabilität sorgen können. Das erneut vom BMWi geförderte Folgeprojekt flexQgrid soll dieses Smart Grid im Labormaßstab in Richtung Standard und Marktreife weiterentwickeln.

Bildergalerie

  • Ein Smart Grid im Labormaßstab setzt Netze BW im Projekt Grid Control um. Im Nachfolgeprojekt flexQgrid geht es vor allem um Standards und Marktreife.

    Ein Smart Grid im Labormaßstab setzt Netze BW im Projekt Grid Control um. Im Nachfolgeprojekt flexQgrid geht es vor allem um Standards und Marktreife.

    Bild: Netze BW

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