Maximilian Topp ist mit diesem Beitrag im E&E-Kompendium 2020 als einer von 100 Machern der Elektronikwelt vertreten. Alle Beiträge des E&E-Kompendiums finden Sie in unserer Rubrik Menschen.
Wir leben im Jahr 2020, circa 30 Jahre nach dem Öffentlichwerden des Internets. Aber einige Landkreise haben immer noch Funklöcher und keine Breitbandverbindung. Andere Städte wie unser Firmensitz Bochum werden Gigabit-City und befinden sich im digitalen Umbruch, obwohl – oder besonders weil – dort früher Kohle und später Autos wichtig waren. So ähnlich ist es in der Industrie.
Vor einiger Zeit habe ich bei Bosch Rexroth in der Vorausentwicklung gearbeitet. Ich hatte das Gefühl, dass man mit den richtigen Kollegen und unter den richtigen Bedingungen Berge versetzen kann. Das Gefühl habe ich bis heute, und es ist stärker denn je. Denn meine damaligen Kollegen und ich haben uns irgendwann entschlossen, auf eigenen Beinen zu stehen.
Das daraus entstandene Unternehmen, Sentin, hat es sich zum Ziel gesetzt, industrielle Bildverarbeitung mit KI zu revolutionieren. Aber was bedeutet das? Seit vielen Jahren gibt es schon computergestützte Bildauswertung. Dennoch ist sie noch nicht überall angekommen oder nicht genau genug. Woran liegt das?
KI ist nicht die neueste Kaffeemaschine
Ich sehe dafür zwei Gründe. Erstens: Die klassische Bildauswertung (ohne KI – oder besser gesagt Deep Learning) ist häufig aufwendig, teuer und nicht robust. Erst müssen konkrete Regeln programmiert werden, die aber nur so lange funktionieren, bis sich etwas ändert (zum Beispiel Lichtverhältnisse). Das treibt Stundensätze nach oben. Es muss nachkalibriert werden und so weiter.
Zweitens: Der Großteil der Menschen weiß nicht, wie Deep Learning oder KI funktioniert. Diese neue Form von KI ist nicht die Kaffeemaschine mit Zeitschaltuhr. Ein KI-Modell kann komplexe Dinge automatisch lernen, für die ein Mensch Jahre an Erfahrung braucht – und das nur anhand von Beispielen.
Das „Hautscreening“ der Industrie
Ich möchte von einem Anwendungsfall berichten, der mir die Augen geöffnet hat: Die zerstörungsfreie Werkstoffprüfung (ZfP) ist eine wunderbare Disziplin, die für unser aller Sicherheit sorgt. Darunter fällt zum Beispiel die Röntgenprüfung von Schweißnähten in Kraftwerken oder der CT-Scan von Bauteilen im Auto. Häufig wird sie von zertifizierten Prüfern durchgeführt oder halbautomatisch in speziellen Anlagen. Was kann KI hier tun, um die Sicherheit aller zu erhöhen und den Unternehmen dabei zu helfen, weiter wettbewerbsfähig zu bleiben?
Wenn ich ein KI-Beispiel aus der Medizin heranziehe, bei dem die Technologie schon Standard ist, kann man einige Analogien feststellen. Hautärzte führen heute ein computergestütztes Hautscreening durch, um schneller und genauer auffällige Stellen zu finden – genau wie eine digitale Zweitmeinung.
Man stelle sich das mit Röntgenaufnahmen von Schweißnähten vor. Ich bin schneller und genauer in der Auswertung, weil ich weniger übersehe und mehr Zeit für die kritischen Fälle habe. Kombiniert man dies mit einer KI, die mir hilft, erst einmal die richtigen Bildverhältnisse herzustellen, sodass ich überhaupt etwas erkennen kann (bei zum Beispiel Rauschen oder schlechtem Kontrast), dann habe ich schon eine Menge Zeit und Nerven eingespart.
Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Ich zweifle nicht daran, dass Deep Learning die industrielle Bildverarbeitung revolutionieren wird, wenn Autos heute schon fast alleine auf der Straße fahren können – wir können Berge versetzen.