Jochen Schwill ist mit diesem Beitrag im Energy 4.0-Kompendium 2020 als einer von 50 Machern der Energiebranche vertreten. Alle Beiträge des Energy 4.0-Kompendiums finden Sie in unserer Rubrik Menschen.
Über 9000 Anlagen mit einer Gesamtleistung von rund 7800 MW hat Next Kraftwerke mit Stand Ende März 2020 vernetzt. Damit betreibt das Kölner Unternehmen eines der größten virtuellen Kraftwerke Europas. „Wir haben selbst eine sehr fortschrittliche Technologie entwickelt, die in der Lage ist, zehntausende Anlagen zu vernetzen und in Sekunden zu steuern“, sagt der Geschäftsführer und Gründer Jochen Schwill.
Dafür habe man sich keine Impulse aus Amerika holen können. „Denn für das, was wir machen, gibt es keine wirklichen Vorbilder“, sagt Schwill. „Vision, Kreativität, Mut, Können und Flexibilität – das hat uns in den vergangenen zehn Jahren vorangebracht“, sagt der Wirtschaftsingenieur. Besonders stolz ist er, dass sein virtuelles Kraftwerk, das erste war, das 2011 Regelenergie aus vernetzten Anlagen an einen Übertragungsnetzbetreiber geliefert hat.
Virtuelle Kraftwerke für die Energiewende
Der Einsatz solch innovativer Lösungen ist auch heute nicht minder gefragt. Unter anderem ist dafür ein Stillstand bei der Energiewende verantwortlich, den der Energiemanager beobachtet. „Es fehlt derzeit der energiepolitische Mut, klare Entscheidungen zu treffen“, klagt Schwill, der Next Kraftwerke 2009 mit seinem Partner Hendrik Sämisch gegründet hat.
So sieht er etwa einen erheblichen Bedarf den Netzausbau zu beschleunigen und Netze zu digitalisieren. „Wir geben Hunderte Millionen Euro für den Redispatch aus, weil die Netze nicht in der Lage sind, den Strom von Norden nach Süden zu transportieren. Aus ähnlichen Gründen regeln wir in Deutschland rund 5500 GWh Strom aus Erneuerbaren Energien jährlich über das Einspeisemanagement ab, damit allein könnten wir schon den Stromverbrauch von rund 2 Millionen Einpersonenhaushalten abdecken.“ Digitale Netze mit intelligenten Märkten auch für dezentrale Erzeuger und ein konsequenterer Stromnetzausbau würden das Problem lösen, ist Schwill überzeugt.
In mehreren Vorhaben machen sich die Kölner daran, dies zu beweisen. So erprobt man mit Partnern im Projekt „FRESH“ neue Ideen bei der Lieferung von Regelleistung aus Batterien von automatisch gesteuerten E-Fahrzeugen (AGVs) im Container Terminal Altenwerder. Ebenfalls mit weiteren Unternehmen wurden in der Netzsicherheitsinitiative „DA/RE“ die Grundlagen für den sogenannten Redispatch 2.0 gelegt. Die Plattformlösung soll den Redispatch unter Einbeziehung von dezentralen Erzeugern im Verteilnetz erleichtern. Innovativ ist auch das Projekt mit den Stadtwerken Haßfurt und Greenpeace Energy, bei dem eine Power-to-Gas-Anlage in das virtuelle Kraftwerk von Next Kraftwerke eingebunden ist. Bei Überschüssen im Verteilnetz wandelt die Anlage vollautomatisch gesteuert einen Überschuss an Wind- und Solarstrom in Windgas in Form von Wasserstoff um.
Flexibel bleiben und Markt beobachten
Eine wichtige Rolle spielen die Kölner auch bei der Direktvermarktung von Grünstrom, wo man derzeit deutschlandweit mit einem Portfolio von knapp 6000 MW auf Platz drei rangiert – bei Photovoltaik sogar auf Platz eins. Als „heißer Markt“ rücken außerdem zunehmend die sogenannten PPA in den Blick. Gute Erfahrungen hat man bei diesen Direktlieferverträgen für Grünstrom mit kürzeren Laufzeiten im Bereich von ein bis fünf Jahren gemacht. In der kürzeren Frist sind Risiken wie die Strompreisentwicklung laut Schwill besser kalkulierbar. Deshalb seien die Risikoabschläge auch geringer und es kämen unter dem Strich deutlich höhere Erlöse beim Betreiber an.
In diesem dynamischen Umfeld hat der Geschäftsführer die Wichtigkeit ausgemacht, den Markt genau zu beobachten und selbst flexibel zu bleiben. Sichtbar wird das zum Beispiel darin, dass Schwill nicht nur ein eigenes VPP betreibt, sondern die Technologie desselben auch an Dritte lizensiert. Und auch Mut gehört dazu, genauso wie vor 11 Jahren bei der Unternehmensgründung. Schwill erinnert sich: „Es gab damals einen Moment, in dem wir uns entscheiden mussten, unsere Promotionsstelle an der Uni aufzugeben und komplett in die Selbstständigkeit zu gehen. Wir haben alles auf eine Karte gesetzt.“