Die meisten EVU haben ihre Beschaffungsprozesse, Purchase-to-Pay, schon vor Jahren digitalisiert. Das ist eine Antwort auf den intensiven Wettbewerb im volatilen Energiemarkt. Durch Effizienzsteigerungen in allen Unternehmensfunktionen können die Unternehmen die Kosten weiter senken und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern. Der Einkauf spielt dabei eine wesentliche Rolle, sowohl in Bezug auf Kosten als auch für die Agilität, auf neue Rahmenbedingungen zu reagieren.
Aber wie viele Unternehmen haben einen Überblick, wie effizient ihre Beschaffungsprozesse im Alltag gelebt werden? Die Standardfunktionen ihrer ERP-Systeme reichen für eine tiefgreifende Analyse nicht aus oder sind nur mit einem hohen Aufwand zu realisieren.
Es gilt die Erkenntnis, dass im System nicht zu wenige, sondern zu viele Daten zur Verfügung stehen. Hier kommt Process Mining ins Spiel. Mit diesem Verfahren werten Spezialisten riesige Datenmengen, auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, systematisch aus. Dazu müssen zwei Komponenten zusammenkommen: Einmal entsprechende Analysetools, die technisch in der Lage sind, große Datenmengen zu importieren, zu modellieren, und zu visualisieren. Hier stehen praxisbewährte Lösungen zur Verfügung, die bereits viele hundert Mal in Unternehmen verschiedenster Branchen und Größe eingesetzt wurden.
Die sinnvolle Bewertung der Ergebnisse erfordert eine zweite Komponente, nämlich eingehende Kenntnisse über die Geschäftsprozesse in der jeweiligen Branche. „EVU haben sehr spezifische Beschaffungsprozesse“, hebt Thomas Weichelt, Fachbereichsleiter Business Consulting bei Prego Services, hervor. Das Unternehmen unterstützt Energieversorger bei der Einführung und Optimierung digitaler Prozesse und führt zudem für eine Reihe von EVU die kompletten operativen Einkaufsprozesse bis hin zur Lagerlogistik aus.
360-Grad-Analyse
Netzbetreiber stehen oft vor der Herausforderung, für ungeplante Baustellen kurzfristig Material zu beschaffen. Ein Soll-Ist-Vergleich aller Einkaufprozesse macht die Zahl dieser Workarounds sichtbar. Er zeigt in einer 360-Grad-Analyse die tatsächlichen Abläufe und wo wie oft Abweichungen vom Soll-Ablauf auftreten. Dazu rekonstruiert Process Mining jeden Beschaffungsvorgang über einen definierten Zeitraum, wann eine Bestellung freigegeben, der Wareneingang gebucht und eine Rechnung bezahlt wurde.
Diese Einzelergebnisse aggregiert die Analyse und vergleicht sie mit den Soll-Prozessen. Ein wichtiger Indikator ist zum Beispiel Skontogewinn und Skontoverlust. Eine hohe Nutzungsrate von Skonto – berechnet auf Basis aller skontofähigen Rechnungen – ist ein starkes Indiz für Prozesskontrolle und hohe Effizienz in der Rechnungseingangsverarbeitung. Umgekehrt zeigt eine hohe Skonto-Verlustrate Handlungsbedarf auf. Die Bewertung durch Spezialisten analysiert die Ursachen und macht die Handlungsoptionen transparent.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Häufigkeit und der Umfang von Maverick Buying, Rechnungen ohne Bestellbezug. Diese Abweichungen vom klassischen Einkaufsprozess erzeugen einen erheblichen manuellen Zusatzaufwand. Darüber hinaus ist Maverick Buying auch ein Indikator bei der Compliance-Analyse. Gerade EVU stehen als Unternehmen mit öffentlichem Auftrag besonders in der Verantwortung, Compliance-Regeln einzuhalten.
Transparenz statt Emotionalität
Im ERP-System sind Millionen von Daten gespeichert. Jeder Bearbeitungsschritt im Einkaufprozess ist beispielsweise mit einem Zeitstempel versehen. Process Mining analysiert damit die Durchlaufzeiten im Detail und visualisiert, wie oft und bei welchen Aktivitäten Verzögerungen auftreten. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, zu erkennen, ob es sich dabei um notwendige oder um unnötige Abweichungen vom Soll-Prozess handelt.
Process Mining beschleunigt diese Beurteilung in dem es zusätzliche Merkmale zu diesen Abweichungen, gestützt auf Künstliche Intelligenz, aufbereitet. Sie visualisiert direkt, welche Prozessschritte, Warengruppen oder Lieferanten auffällig sind. Diese Analysen helfen auch, intern die Dringlichkeit und Notwendigkeit von Optimierungen zu verdeutlichen: „Process Mining nimmt durch Transparenz die Emotionalität heraus und hilft den Mitarbeitern, rational an der kontinuierlichen Verbesserung zu arbeiten.“ unterstreicht Thomas Weichelt.
Solche Projekte führen in der Konsequenz oftmals dazu, den Automatisierungsgrad im Beschaffungsprozess zu erhöhen. Das entlastet die Mitarbeiter von Routineaufgaben und schafft zudem Freiräume, die Wertschöpfung in der Beschaffung zu erhöhen. Mehr noch: Process Mining gibt Geschäftsleitungen und Führungskräften konkrete Handlungsempfehlungen. Sie können bei Bedarf gezielt nachsteuern und Veränderungen faktisch dokumentieren.