Die Elektrifizierung bildet das Fundament einer nachhaltigen, technologiegetriebenen Zukunft. Doch mit der Knappheit an kritischen Komponenten, Rohstoffen und Arbeitskräften stehen die rund 800 Netzbetreiber in Deutschland sowie Kernzulieferer, Dienstleister und Hersteller von elektrotechnischem Equipment wie Siemens oder AEG vor der Herausforderung das Stromnetz für die steigende Nachfrage zu rüsten und den nötigen Wandel anzustoßen.
Tiefgreifende Auswirkungen auf die Stromnetze
Googles jüngster Umweltbericht zeigt, dass die Treibhausgasemissionen des Unternehmens in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent gestiegen sind, hauptsächlich aufgrund der enormen Erweiterung von Rechenzentren, die KI-Systeme unterstützen. Dies verdeutlicht zwei zentrale Trends: Den wachsenden globalen Energiebedarf und die Notwendigkeit, diese Energie aus nachhaltigen Quellen zu beziehen. Beide haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Stromnetze. Denn moderne Netze müssen erneuerbare Energiequellen effizient integrieren und eine dezentrale Energieerzeugung bewältigen. Um diesen Wandel zu ermöglichen, ist eine erhebliche Infrastrukturentwicklung erforderlich, die jedoch von der Verfügbarkeit wichtiger Ressourcen und der nötigen Finanzierung abhängt.
Horst Dringenberg, Partner bei Kearney: „Wir brauchen dringend mehr politisches Backing in diesem Bereich. Die Finanzierungslogik geht einfach nicht auf – die Verzinsung ist viel zu hoch, dabei wäre dies eine gute Stellschraube, um die Lage zu verbessern.“ Laut dem Experten seien auch in wichtigen Transitländern wie den Niederlanden die regulatorischen Anforderungen nicht gut. „Ein Scheitern wird die Energiekosten erheblich erhöhen, den Übergang zu nachhaltiger Energie verzögern und die Emissionsziele gefährden – kurz gesagt, die fundamentalen Probleme, die hier geschaffen werden, machen die Ökonomie Europas nicht überlebensfähig“, so Dringenberg.
Millionen Kilometer an Netzen benötigt
Die größte Herausforderung der Netzbetreiber und Hersteller ist dabei die steigende Nachfrage nach Netzinfrastruktur und Netzmodernisierung. Und das nicht ohne Grund: Im Jahr 2023 enthüllte die IEA (Internationale Energieagentur), dass zur Erreichung der nationalen Energie- und Klimaziele bis 2040 mehr als 80 Millionen km neuer oder erneuerter Netze benötigt werden.
In Europa, wo etwa 40 Prozent der Verteilungsnetze mehr als 40 Jahre alt sind, ist ein ohnehin massives Ausbauprogramm mit der Verabschiedung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie noch dringlicher geworden. Diese wurde kürzlich überarbeitet, um das Ziel der EU-Mitgliedstaaten für erneuerbare Energien bis 2030 auf mindestens 42,5 Prozent und bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen. „Obwohl all das erhebliche Auswirkungen auf die Stromversorgungskette hat, scheinen die Verantwortlichen das Ausmaß des Problems noch nicht zu sehen“, zeigt sich Dringenberg besorgt.
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Mangel in den USA noch akuter
Transformatoren etwa sind kritische Komponenten in der Elektrizitätsversorgung und werden aufgrund umfangreicherer Netze und Leitungen in immer größeren Mengen benötigt. Seit der COVID-Pandemie sind die Preise und Lieferzeiten allerdings stark gestiegen, was vor allem auf die Rohstoffkosten zurückzuführen ist. So haben sich die Preise für Transformatoren zum Teil verdoppelt, und Lieferzeiten können aktuell bis zu vier Jahre betragen – besonders bei großen Hochspannungstransformatoren.
In den USA ist der Mangel noch akuter: Auch hier fordern jahrzehntealte Netze und eine enorme Nachfrage nach Rechenzentren. Infolgedessen wurden in den USA bereits Produktionskapazitäten aus Europa abgezogen und das Land wird zunehmend offener gegenüber Japan und Korea als Lieferquellen. Kupfer, als wesentliche Komponente in der Hardware von Stromnetzen, ist ebenfalls entscheidend für die Netzinfrastruktur.
Infolgedessen ist auch die Nachfrage nach Kupfer in der Produktion von Hoch- und Mittelspannungsschaltanlagen, Transformatoren, Kabeln und Umspannwerken erheblich gestiegen – und wird die Versorgungskapazitäten noch bis 2028 übersteigen. „Das Problem ist nicht der Kupferbestand selbst, es gibt durchaus genug Kupfer auf der Welt, allerdings können die Mienenkapazitäten nicht schnell genug ausgebaut werden“, so Dringenberg.
Fachkräftemangel bedroht Infrastrukturausbau
Knappheit an Ressourcen und Komponenten ist nicht der einzige Grund für den Engpass in Europas Energieinfrastruktur: Auch qualifiziertes Personal ist Mangelware. Während der derzeitige Abschwung im Bausektor zu einem Überangebot an geringqualifizierten Arbeitskräften geführt hat, steigt die Nachfrage nach Fachkräften mit Expertise in der elektrischen Infrastruktur. Erfahrene Bauprojektleiter, spezialisierte Aufsichtspersonen und qualifizierte Hochspannungselektriker werden dringend gesucht, womit auch die Lohnforderungen steigen.
In Deutschland ist der Kostenindex für Bauingenieursdienstleistungen seit 2020 um 36 Prozent gestiegen. Dies liegt vor allem an den um 20 bis 50 Prozent gestiegenen Löhnen für hochqualifizierte Arbeitskräfte. „Wenn dieses Problem nicht gelöst wird, könnte dieser Mangel den Infrastrukturausbau bedrohen, die Kosten in die Höhe treiben und die Energiepreise für Verbraucher stark erhöhen“, so Dringenberg.
Die Elektrifizierung zur Realität machen
Um die Herausforderungen bei der Elektrifizierung zu bewältigen, können Netzbetreiber und Komponentenhersteller verschiedene Maßnahmen ergreifen. „Langfristige Lieferantenbeziehungen und Kaufverpflichtungen sind entscheidend, um Kapazitäten frühzeitig zu sichern und Infrastrukturprogramme voranzutreiben“, sagt Dringenberg. Dabei könne auch die Übernahme von Lieferanten in Betracht gezogen werden, allerdings sollte das Risiko eines Überangebots an Kapazitäten nach dem Netzaufbau unbedingt bedacht werden. Materialsubstitution und Standardisierung können helfen, den Druck auf die Lieferketten zu mindern. Beispielsweise durch den Einsatz von Aluminium anstelle von Kupfer.
In Bezug auf Lieferzeiten helfen standardisierte Spezifikationen dabei, Design, Fertigung und Installation zu beschleunigen. Intelligentes Netzdesign wie netzgebundene Energiespeicherung und Hochtemperaturkabel können zudem den Ausbaubedarf reduzieren. Wobei der Einsatz von Speichern das Potenzial hat, die Netzlänge um bis zu 30 Prozent zu verringern. „Grundsätzlich ist vor allem eine kluge Ressourcenplanung notwendig, um Nachfragegipfel zu verhindern, indem die Projekte priorisiert werden, die den größten Einfluss auf die Netzkapazität haben“, so Dringenberg abschließend.