„Mit der von uns entwickelten Methode können wir Dinge sichtbar machen, die zuvor niemand gesehen hat“, sagt Prof. Sebastian Loth, geschäftsführender Leiter des Instituts für funktionelle Materie und Quantentechnologien (FMQ) an der Universität Stuttgart. „So wird es möglich, Fragen über die Bewegung von Elektronen in Festkörpern zu klären, die seit den Achtzigerjahren offen waren.“ Doch die Forschungsergebnisse von Loths Gruppe haben perspektivisch auch ganz praktische Bedeutung für die Entwicklung von neuen Materialien.
Winzige Änderungen mit makroskopischen Folgen
Bei Metallen, Isolatoren oder Halbleitern ist die physikalische Welt einfach. Ändert man auf atomarer Ebene ein paar Atome, bleiben die makroskopischen Eigenschaften unverändert. Zum Beispiel sind so modifizierte Metalle weiterhin elektrisch leitend, Isolatoren nicht.
Bei fortschrittlicheren Materialien, die sich bislang nur im Labor herstellen lassen, ist die Situation dagegen anders: Minimalste Veränderungen auf atomarer Ebene rufen ein neues makroskopisches Verhalten hervor. Zum Beispiel werden manche dieser Materialien schlagartig vom Isolator zum Supraleiter, leiten also den Strom ohne Wärmeverluste.
Diese Änderungen können extrem schnell innerhalb von Pikosekunden stattfinden, da sie die Bewegung der Elektronen durch das Material direkt auf der atomaren Skala beeinflussen. Eine Pikosekunde ist extrem kurz, nur eine Billionstelsekunde. Sie steht im selben Verhältnis zu einem Wimpernschlag, wie der Wimpernschlag zu einem Zeitraum von über 3.000 Jahren.
Bewegung des Elektronenkollektivs erfasst
Loths Arbeitsgruppe hat nun einen Weg gefunden, dem Verhalten dieser Materialien bei solchen atomar kleinen Änderungen zuzuschauen. Konkret untersuchten die Forschenden ein Material, das aus den Elementen Niob und Selen besteht. Bei ihm lässt sich ein Effekt relativ ungestört beobachten: die kollektive Bewegung der Elektronen in einer Ladungswelle, die sich wellenförmig durch ein Medium bewegt.
Loth und sein Team untersuchten, wie eine einzige Störstelle diese kollektive Bewegung aufhält. Dazu prägen die Stuttgarter Forscher dem Material einen extrem kurzen Strompuls auf, der nur eine Pikosekunde anhält. Die Ladungswelle wird gegen die Störstelle gedrückt und entsendet nanometerkleine Verzerrungen in das Elektronenkollektiv, die für kurze Zeit hochkomplexe Elektronenbewegungen in dem Material hervorrufen.
Wichtige Vorarbeiten für die nun vorgestellten Ergebnisse liefen am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung (MPI FKF) in Stuttgart und am Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) in Hamburg, wo Loth vor seiner Berufung an die Universität Stuttgart geforscht hatte.
Materialien mit gewünschten Eigenschaften entwickeln
„Wenn wir verstehen, wie die Bewegung des Elektronenkollektivs aufgehalten wird, dann können wir auch gezielt Materialien mit erwünschten Eigenschaften entwickeln“, verdeutlicht Loth das Potenzial. Oder anders formuliert: Da es keine perfekten Materialien ohne Störstellen gibt, hilft das entwickelte Mikroskopieverfahren beim Verständnis, wie Störstellen anzuordnen sind, um eine gewünschte technische Wirkung zu erzielen.
„Das Design auf atomarer Ebene, wirkt sich unmittelbar auf die makroskopischen Eigenschaften des Materials aus“, beschreibt Loth die Tragweite des Forschungsergebnisses. Ausnutzen ließe sich der Effekt zum Beispiel für ultraschnell schaltbare Materialien in künftigen Sensoren oder elektronischen Bauteilen.
Experiment 41 Millionen Mal pro Sekunde
„Es gibt schon lange etablierte Verfahren, um einzelne Atome oder ihre Bewegungen sichtbar zu machen“, erläutert Loth. „Aber mit ihnen erreicht man entweder eine hohe räumliche Auflösung oder eine hohe zeitliche Auflösung.“ Damit das neue Stuttgarter Mikroskop beides schafft, kombinieren der Physiker und sein Team ein Rastertunnelmikroskop, das Materialien atomar auflöst, mit einem Ultrakurzzeit-Spektroskopieverfahren, der sogenannten Pump-Probe-Spektroskopie.
Um die erforderlichen Messungen durchzuführen, muss der Laboraufbau extrem gut abgeschirmt sein. Schwingungen, Lärm oder Luftbewegungen sind schädlich, genauso wie Schwankungen in der Raumtemperatur oder der Luftfeuchte.
„Denn wir messen extrem schwache Signale, die sonst leicht im Hintergrundrauschen verlorengehen“, verdeutlicht Loth. Zudem muss das Team diese Messungen für aussagekräftige Ergebnisse sehr oft wiederholen. Die Forschenden konnten ihr Mikroskop so optimieren, dass es das Experiment 41 Millionen Mal pro Sekunde wiederholt und dadurch eine besonders hohe Signalqualität erreicht. „Wir sind die Einzigen, denen das bislang gelingt“, sagt Loth.