Man muss tatsächlich zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass der auf dem Windtestfeld in Grevenbroich bei Düsseldorf installierte Stahlgitter-Turm kein Funksignalumsetzer, sondern eine Windenergieanlage ist. Jedoch keine gewöhnliche: An der Spitze in rund einhundert Meter Höhe drehen sich drei vertikal ausgerichtete Rotorblätter nicht nur um ihre eigene Achse, sondern gemeinsam wie ein Karussell im Kreis. Vertical Sky ist schweizerische Ingenieurskunst pur und steht für eine neue Art der Energieerzeugung aus Wind. Nach zehnjähriger Forschungs- und Entwicklungstätigkeit steht Agile Wind Power AG mit Sitz in Dübendorf im Kanton Zürich unmittelbar vor der Serienproduktion.
Mit großer Beharrlichkeit und der festen Überzeugung, dass diese Variante der Windverstromung weltweit eine Zukunft haben wird, hat Patrick Richter, Gründer und CEO des innovativen StartUps, eine anfangs spleenige Idee mit eidgenössischer Entschlossenheit zur Marktreife geführt. „Vertical Sky verfolgt ein dezentrales Konzept zur sicheren, sauberen und zuverlässigen Energieerzeugung. Unsere Anlagen sind hörbar drei Mal leiser als konventionelle Windkraftanlagen und stellen nach Aussage von Ornithologen keine Gefahr für Vögel und Fledermäuse dar.“, betont Patrick Richter.
Konventionell versus vertikal
Der Anteil Erneuerbarer Energien im Jahr 2020 an der gesamten Bruttostromerzeugung (564 Mrd. kWh) betrug mit 252 Mrd. kWh knapp 45 Prozent. Davon stammen rund 42 Prozent (105 Mrd. kWh) aus Onshore-Windenergieanlagen.* Doch aktuell stockt der Ausbau: neue Windpark-Standorte sind rar, geforderte Mindestabstände zur Bebauung häufig nicht umsetzbar, die Ablehnung in der Bevölkerung nimmt zu. Klassische Windkraftanlagen wurden in der Vergangenheit immer größer, Turmhöhen von nahezu 200 Meter und Rotordurchmesser von 150 Meter sind keine Ausnahmen.
Bei konventionellen Windkraftanlagen treibt ein dreiblättriger Rotor über eine waagrechte Achse den Generator in der Turmgondel an. Bei Vertical Sky ist der Stromerzeuger und dessen Antriebsachse senkrecht am Turmkopf installiert. Am Ende eines dreiarmigen Drehkranzes mit über dreißig Meter Durchmesser sind, vertikal ausgerichtet und mittig frei drehbar, drei Rotorblätter mit einer Länge von jeweils 54 Meter montiert. Frühere Varianten vertikaler Windturbinen schieden aus, weil die Fliehkräfte und der Materialverschleiß zu hoch und der Wirkungsgrad zu gering waren. Um den Wind effizient für die Energiegewinnung zu nutzen, muss das Rotorblatt, ähnlich wie das Segel eines Bootes, stets optimal im Wind stehen. Wären die Blätter fest montiert, würde sich der Kranz bei höheren Windgeschwindigkeiten zwar drehen. Von einer optimalen Energieausbeute wäre die Anlage jedoch weit entfernt.
Magnetcodiertes Wegmesssystem
Das bringt die Kernanforderung auf den Punkt: „Die anspruchsvolle Aufgabe bestand darin, eine Lösung zu finden, welche die drei Lamellen in jeder Position auf ihrer Reise um die Zentralachse stets optimal in den Wind stellt.“, erläutert Patrick Richter. „Bei der umgesetzten hochzuverlässigen Pitch-Lösung spielen Balluff-Komponenten eine wichtige Rolle. Als technisch versierter und innovativer Lösungsanbieter im industriellen Umfeld ist uns Balluff seit langem ein Begriff.“
Grundlage ist das magnetcodierte Wegmesssystem BML von Balluff, das in Abhängigkeit von der jeweils herrschenden Windrichtung mithilfe leistungsfähiger Sensorik eine hochdynamische Verstellung der Blätter mittels Stellmotoren in Echtzeit gewährleistet. Dabei werden die Rotorblätter praktisch nonstop mit bis zu 4.000 Messungen pro Sekunde gepitched. Für das Balluff-Team um Produktmanager Harald Weiser war das eine echte ingenieurstechnische Herausforderung, die gemeinsam mit den Ingenieuren von Agile Wind Power auf intelligente Weise gelöst wurde. Der permanente berührungslose Vergleich der Soll-Ist-Werte erfolgt über ein absolut kodiertes Magnetband, das auf die Drehachse aufgezogen ist. „Die aktive, kontinuierliche Blattverstellung ermöglicht einen hohen Wirkungsgrad selbst bei tiefen Drehzahlen des Rotors. Der Anstellwinkel zur Windrichtung ist daher jederzeit optimal. Da die Geräuschentwicklung in der fünften Potenz mit der Windgeschwindigkeit einhergeht, führt das im Vergleich zu gewöhnlichen Anlagen zu einer beträchtlichen Reduktion der Schallleistung.“, sagt Patrick Richter.
Als Sensorik- und Automatisierungsspezialist ist Balluff mit Produkten und Lösungen nicht nur in der klassischen Industrie, sondern seit langem auch in der Kraftwerks- und Windkraftbranche vertreten. Mit globalen Technologieführern der Windkraftbranche konnten in der Vergangenheit bereits Schlüssellösungen für die hydraulische Pitch-Verstellung, Drehzahlmessung und Füllstandkontrolle entwickelt werden.
Markteinführung wohl 2022
Magnetkodierte Systeme von Balluff lösen eine große Bandbreite an Weg- und Winkelmessaufgaben. Sie stehen für die dynamische und exakte Erfassung von Geschwindigkeit und Drehzahl rotierender Wellen in unterschiedlichsten Industrien. Ein Magnetbandsystem besteht grundsätzlich aus einem Sensorkopf, dem Maßkörper für den linearen oder rotativen Einsatz sowie aus Zubehör wie Zähler-, Display oder Führungssystem. Messwerte stehen als inkrementelle oder absolute Ausgangssignale zur Verfügung. Die mit dem von Balluff entwickelten Permagnet-Verfahren magnetisierten Maßkörper gewährleisten höchste Genauigkeit. Band-Maßkörper als Rollenware mit einer Länge von bis zu 48 Meter bieten hohe Flexibilität. Die echtzeitfähigen BML-Wegmesssysteme von Balluff stellen Positionsinformationen innerhalb von Mikrosekunden zur Verfügung und eignen sich daher auch als Feedbacksysteme in elektrischen Antriebsachsen. Kleine Abmessungen und berührungslose Messtechnik erlauben die Integration selbst bei beengten Einbausituationen, mit entsprechendem Zubehör wie Edelstahlabdeckbändern selbst unter extremen Umweltbedingungen.
Die ersten Vertical Sky Windturbinen will Patrick Richter spätestens im Jahr 2022 verkaufen, Gespräche mit zahlreichen Interessenten sind im Gange. Vorher muss der Firmenchef jedoch noch einen Rückschlag verdauen: Im Zuge der Inbetriebnahme im November des vergangenen Jahres führte eine starke, turbulente Böe mit plötzlicher Richtungsänderung zum Bruch eines Rotorarms. „Ein derartiges Windereignis kommt in den bisherigen Zertifizierungsnormen nicht vor. Die nachträglich durchgeführten Berechnungen und Simulationen zeigen, dass gleiche und ähnliche Vorkommnisse mittels einfacher Maßnahmen zukünftig verhindert werden können. Diese werden derzeit umgesetzt. Das Wegmesssystem von Balluff hatte keinen Einfluss auf das Schadensereignis.“, stellt Patrick Richter klar.
Die vergleichsweise umgebungsverträglichen Anlagen mit einer Gesamthöhe von 105 Meter bieten eine Nennleistung von derzeit 750 kW. Sie zielen auf Märkte und Nutzer weltweit, für die herkömmliche Windkraftanlagen nicht geeignet sind. „Wir denken dabei unter anderem an Betreiber von Kläranlagen, Rechenzentren oder Betriebe mit hohem Strombedarf. Infrage kommen auch Gewerbegebiete oder Siedlungseinheiten, die lokal mit sauberer Energie versorgt werden sollen. Besonders geeignet sind Vertical Sky Windturbinen auch für dezentrale Versorgungskonzepte in Entwicklungs-Ländern.“, so Patrick Richter.
Im Vergleich zu konventionellen Windkraftanlagen mit ihren schwerlastintensiven Logistikanforderungen sind Transport und Montage der Vertikalwindkraftanlagen von Agile Wind Power nahezu an jedem Ort vergleichsweise einfach möglich. Mit Balluff steht für das schweizerische Start-up für alle Fälle ein kompetenter Partner mit Rat und Tat sowie den entsprechenden Produkten und Lösungen zur Seite, der weltweit fundierte Erfahrungen in den Bereichen Wasser- und Windkraft gesammelt hat.