Alle Maschinen stehen still. Für Unternehmen im produzierenden Gewerbe ein Worst-Case-Szenario. Störungen der Produktion oder gar Maschinenausfälle sind mit hohen Ausfallkosten verbunden. Es drohen Konventionalstrafen für nicht pünktlich erfolgte Lieferungen.
Deswegen kommen zunehmend „smarte Technologien“ zum Einsatz, die Daten sammeln und auswerten, um anstehende Reparaturbedarfe von Maschinen frühzeitig vorhersehen, sodass der Mensch eingreifen kann, bevor es zu einem teuren Maschinenstillstand kommt.
Ersatzteile bestellen? Zulieferer informieren? Halbe Kraft fahren? Die Plattform gibt Handlungsempfehlungen
Wissenschaftler der Hochschule Bielefeld (HSBI) aus dem Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik am Campus Gütersloh gehen in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik und Mechatronik (IEM) allerdings nun noch einen Schritt weiter: Eine von ihnen entwickelte Plattform soll nicht nur rechtzeitig Probleme voraussagen, sondern die Nutzer gleichsam im selben Atemzug mit konkreten Handlungsempfehlungen zur Behebung der Störung versorgen.
„Für Ingenieure stellt sich immer die Frage: Was mache ich mit der Prognose? Bestelle ich Ersatzteile? Habe ich etwaige Lieferengpässe im Blick? Oder produziere ich für eine bestimmte Zeit mit halber Auslastung?“, skizziert Prof. Dr.-Ing. Martin Kohlhase, der gemeinsam mit Prof. Dr.-Ing. Wolfram Schenck das Projekt leitet, den Ansatz.
Die modulare und nutzerzentrierte Prescriptive-Analytics-Plattform für die Smart Factory (VIP4PAPS) wurde von den Wissenschaftlern in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik (IEM) entwickelt.
Vorarbeiten für Prescriptive Analytics in der Produktion entstanden im Verbundprojekt „Prescriptive Maintenance“ mit der Firma Venjakob, im Vorhaben „Industrial-IoT-Workflows“ mit der Firma Beckhoff sowie im Projekt „Predictive Quality“ mit der Firma Miele. Das Ziel der Plattform: Vorhersehbarkeit von Ausfällen samt automatisierter Handlungsempfehlungen für Mitarbeitende in der Produktion mittels eines Chatbots.
„Wenn ich weiß, wann mit einer Störung zu rechnen ist, könnte eine Empfehlung lauten, die Produktion umzuplanen oder ein anderes Produkt vorzuziehen“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Wolfram Schenck den automatisierten Prozess. Oder der Zeitpunkt der Reparatur wird in ein für die Produktion günstiges Zeitfenster gelegt. Zwischenzeitlich könnten Ersatzteile und benötigte Werkzeuge beschafft werden.
Ein Chatbot gibt den Mitarbeitenden in der Produktion die Handlungsempfehlungen
Qualität, Wartung und Prozess sind die drei Unterbereiche des Validierungsprojekts, an dem das Forschungsteam arbeitet. Mortimer Dockhorn ist beispielsweise mit der Modellierung des Prozesses befasst. „Wenn bei einem Roboter ein Sensor ausfällt, kann das auf Basis der Sensordaten gelernte Modell für eine gewisse Zeit einspringen, um einen Totalausfall zu verhindern und die Reparatur geplant durchzuführen“, erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter sein Fachgebiet.
Damit der Chatbot sinnvolle Handlungsempfehlungen geben kann, muss er mit sehr vielen unternehmensrelevanten Daten gefüttert werden. Ein Job für Nico Migenda, der unter anderem die gescannten technischen Dokumentationen einer sinnvollen Verknüpfung zuführt, um die Fragen der Nutzer in der Produktion mithilfe von großen Sprachmodellen (Large Language Models) zu beantworten.
Besonders bei kleineren und mittelständischen Unternehmen (KMU) ist das Wissensmanagement häufig unzureichend. Deshalb wird auf der intelligenten Plattform Erfahrungswissen in Bezug auf den Produktionsprozess digital hinterlegt.
„Erfahrene Mitarbeitende wissen unter Umständen, was bei bestimmten Fehlermeldungen oder Anomalien zu tun ist“ erklärt Prof. Kohlhase. „Durch den Fachkräftemangel ist jedoch in der Regel keine Zeit, jemanden Neues auf alle möglichen Szenarien vorzubereiten. Außerdem kann das hinterlegte Wissen auch beim Anlernen von neuen Mitarbeitenden abgerufen werden.“
In diesem Kontext wollen die HSBI-Forschenden auch implizites Wissen einbetten. Kohlhase: „Damit beschreiben wir vereinfacht ausgedrückt, Fachwissen, das in den Köpfen verankert und selbstverständlich angewendet wird, aber von dem Menschen nicht explizit beschrieben werden kann.“
Studentische Abschlussarbeiten mit KMUs geplant – Ausgründung denkbar
Ein wesentlicher Fokus des Forschungsvorhabens liegt in der einfachen und komfortablen Bedienung der Plattform – auch durch Fachpersonal ohne Know-how im Bereich Data Analytics. Deshalb wird die Anwendbarkeit hinsichtlich Plug and Use regelmäßig von potenziellen Anwenderinnen bei sogenannten „Customer Clinics“ in der IoT-Factory bewertet.
Durch gezielte Aufgaben und Fragebögen bewerten Testpersonen die Bedienbarkeit und liefern zusätzliche Impulse für eine finale Validierung. Diese Ergebnisse werden unter anderem von Marvin Niederhaus verarbeitet. Der wissenschaftliche Mitarbeiter bringt im Backend die Anforderungen an die modular aufgebaute Plattform zusammen.
In der Praxis könnte die Plattform Unternehmen sehr gut bei ihren vielfältigen Herausforderungen unterstützen. Denn im Zuge der Globalisierung und der Automatisierung müssen Betriebe schnell individualisierte Produkte herstellen und dabei effizient und wirtschaftlich arbeiten. Produktionsabläufe müssen nicht nur optimiert, sondern auch flexibler gestaltet werden, um konkurrenzfähig zu bleiben.
„Unsere Plattform weist ein Höchstmaß an Flexibilität auf“, betont Prof. Schenck. „Durch die automatische Einleitung passgenauer Reaktionsstrategien wird Arbeitsproduktivität und Resilienz gesteigert und die Produktqualität verbessert.“ Auch der Einsatz von Ressourcen wird insgesamt optimiert. Die HSBI-Wissenschaftler erwarten durch die Einsparungen von Material- und Energieressourcen eine Senkung der Umsetzungssaufwände für KMU um 20 Prozent.
Im Rahmen des Validierungsvorhabens sind eine Reihe von studentischen Abschlussarbeiten geplant – für Studierende eine sehr gute Möglichkeit, ganz praxisnah zu arbeiten. Zudem ist geplant, die Presciptive-Analytics-Plattform als Lernplattform in die Lehre zu integrieren. So können Studierende die innovativen Lösungen unmittelbar erlernen und später im Unternehmen anwenden.
Das Forschungsteam der HSBI geht davon aus, durch die Validierungsphase wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse in der anwendungsorientierten Forschung und für den Forschungstransfer zu gewinnen. Veröffentlichungen und Publikationen sind vor allem im Kontext von Anwendungsdomänen wie Produktionsmanagement oder Fertigungstechnik sowie in der Systems Engineering Community geplant.
„Außerdem erwarten wir im Verlauf der Validierungsphase weitere Forschungsfragen für die Machine Learning Community“, sagt Kohlhase mit Blick auf große Sprachmodelle für die Entscheidungsunterstützung, aber auch in Bezug auf Unsicherheiten und Vertrauen in die Machine-Learning-Modelle.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 1,42 Millionen Euro geförderte Validierungsprojekt VIP4PAPS stellt bis Juni 2025 Produktqualität, Instandhaltung und Prozessoptimierung der Plattform auf den Prüfstand. Und wie geht es nach Abschluss der Validierungsphase weiter? Kohlhase: „Wir denken aktuell über eine Ausgründung nach und eruieren die Möglichkeiten.“