Selbstfahrende Autos zu bauen, die den menschlichen Fahrzeuglenkenden in puncto Sicherheit überlegen sind, würde nach heutigem Stand der Technik mit Einbußen bei der Geschwindigkeit einhergehen, was eine weiterhin sinkende Akzeptanz der autonomen Mobilität zur Folge hätte. Dies ergab eine Studie des Insurance Institute for Highway Safety, einer amerikanischen Verkehrssicherheitsorganisation, die regelmäßig Forschungsergebnisse zum autonomen Fahren veröffentlicht.
Auch Pilotstudien deutscher Automobilhersteller bestätigen die Wahrnehmung der Passagiere, dass autonome Fahrzeuge meist langsam und zögerlich unterwegs sind. Eine wesentliche Herausforderung bei der Markteinführung autonomer Systeme besteht daher darin, die Sicherheit zu gewährleisten, ohne Geschwindigkeit und Komfort so einzuschränken, dass die Akzeptanz schwindet.
Im Projekt „LOPAAS“ (Layers of Protection Architecture for Autonomous Systems) verfolgen das Fraunhofer IESE, das Fraunhofer IKS und die Universität York, allesamt zentrale Forschungseinrichtungen auf dem Gebiet der Absicherung komplexer (Software-)Systeme, das Ziel, es autonomen Fahrzeugen zu ermöglichen, schneller und sicherer zu fahren. Die Ergebnisse des Projekts sollen für den Technologietransfer in die Standardisierung und Normierung einfließen.
Die Partner bündeln ihre Expertisen, um eine Referenzsicherheitsarchitektur und -argumentation für automatisiertes Fahren und autonome Systeme zu entwickeln. Das Fraunhofer IESE bringt sein Know-how im dynamischen Risikomanagement ein, mit dem es autonome Systeme befähigt, die Risiken ihrer Handlungsoptionen situationsspezifisch abzuschätzen und zu kontrollieren, während sich das IKS auf vertrauenswürdige KI-basierte Situationserkennungen sowie eine Laufzeitüberwachung der damit verbundenen Unsicherheiten konzentriert. Die Universität in York wiederum steuert ihre Expertise zur systematischen Erzeugung von umfassenden und nachvollziehbaren Sicherheitsargumentationen bei.
Neue Sicherheitskonzepte für Robotaxis und Autobahnpiloten
Die Projektpartner entwickeln innovative Sicherheitskonzepte für die zwei großen Anwendungsbereiche: zum einen für Robotaxis und Roboshuttles – selbstfahrende Autos für einen oder mehrere Fahrgäste – und zum anderen für in Privat-Pkws integrierte Autobahnpiloten, eine Software, die die Fahr- und Lenkfunktion auf gut kartierten Autobahnabschnitten bei einfachen Wetterbedingungen vollständig übernehmen kann. Die Sicherheitskonzepte werden an konkreten Nutzungsszenarien eines Autobahnpiloten untersucht.
Mit dem digitalen „Safety-Ingenieur“ bringen die Forschungsteams ein System an Bord, das das automatisierte Fahren für die unterschiedlichen Use Cases bei garantierter Sicherheit effizienter macht. Angepasst an die Verkehrssituation reagiert der digitale Safety-Ingenieur individuell und beeinflusst das Fahrverhalten und das Fahrgefühl der Person am Steuer. Dabei ermöglicht das dynamische Risikomanagement mit Hilfe von KI ein vorausschauendes Fahren, wobei die erforderlichen Abstände zu anderen Fahrzeugen eingehalten und harte Bremsungen verhindert werden.
Dynamisches Risikomanagement verzichtet auf Berechnung von Worst-Case-Szenarien
„Aktuelle Ansätze gehen von Worst-Case-Szenarien aus, um die optimale Sicherheit zu gewährleisten. Sie basieren unter anderem auf Berechnungen physikalischer Gesetzmäßigkeiten, also wie sich Objekte bewegen. Dies führt jedoch zu einer verminderten Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Problematisch ist darüber hinaus die korrekte Einschätzung von mehreren Risiken, die zeitgleich auftreten können, beispielsweise ein plötzlich links vom Fahrzeug auftauchender Fußgänger und ein Radfahrer auf der rechten Fahrzeugseite“, sagt Dr. Rasmus Adler, Program Manager „Autonomous Systems“ am Fraunhofer IESE und Projektleiter von „LOPAAS“. „Es geht darum, den Fahrzeugen ein Risikoverständnis zu implementieren, das nicht den Worst Case kalkuliert und damit alle Risiken überschätzt.“
Dabei nutzt das Forschendenteam kausale bayessche Netze, um die gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung aller risikorelevanten Variablen möglichst kompakt zu repräsentieren und damit dem System das Verständnis des dynamischen Kontextes zu ermöglichen.
Die neue Methodik der Forschenden findet bereits im Bereich der Intralogistik Anwendung: In einem Projekt mit Hitachi geht es um die sichere und effiziente Zusammenarbeit von autonomen mobilen Robotern und menschlichen Arbeitskräften in Industriehallen. Das zugrunde liegende Lösungsprinzip besteht darin, statische Worst-Case-Annahmen, wie sie üblicherweise für die Konzeption von Sicherheit verwendet werden, durch dynamische Sicherheitsmechanismen zu ersetzen, die sich das Wissen über die konkrete Situation, in der sich das fahrerlose Transportsystem gerade befindet, zunutze machen.
Beispielsweise kann die Annahme, wie wahrscheinlich sich eine Person in die geplante Fahrtrichtung der Maschine bewegt, anhand der aktuellen Arbeitsaufgabe beziehungsweise der bisherigen Bewegung von Personen an dieser Stelle genauer abgeschätzt werden. Damit kann das System auch besser abschätzen, ob eine proaktive Bremsung tatsächlich notwendig ist oder nicht. Die Systeme sollen relevante Eigenschaften ihrer selbst und ihres Kontexts überwachen, diese Eigenschaften in die Zukunft projizieren und Schlussfolgerungen über deren Auswirkungen auf das Risiko ziehen.
„In einfachen Umgebungen wie Lagerhallen funktioniert unser Ansatz des dynamischen Risikomanagements sehr gut. Hitachi plant, seine fahrerlosen Gabelstapler damit auszustatten. Derzeit optimieren wir unsere Methodik für komplexe Verkehrssituationen mit Robotaxis und Autopiloten bis zum Projektende im Juni 2024. Dabei nutzen wir auch KI und datengetriebene Modelle, die für die Umgebungserkennung und die Klassifizierung von Objekten unerlässlich sind“, sagt Adler.