„Das bahnbrechende an unserem neuesten Modell ist, dass wir unsere Gehirn-Simulation erstmals bestimmte Funktionen – in unserem Fall Sehen – ausführen lassen können“, erklärt TU Graz-Neuroinformatiker Wolfgang Maass, der gemeinsam mit seinen PostDocs Guozhang Chen und Franz Scherr gerade ein wissenschaftliches Paper veröffentlicht hat. Als Ergebnis ihrer Arbeit erwarten sich die Forschenden nun eine neue wissenschaftliche Methode, die künftig in der Forschung zum Einsatz kommt.
Zentrale Funktion in künstlichen neuronalen Netzwerken
Die Sehfunktion haben die Forschenden deswegen als Forschungsgegenstand ausgewählt, weil sie eine der zentralen Funktionen Künstlicher Intelligenz ist – etwa im autonomen Fahren oder der Bildverarbeitung müssen die Algorithmen die mittels Sensoren erfassten Daten über ihre Umgebung interpretieren und aus ihnen lernen. Die Arbeit des TU Graz-Teams baut auf jahrzehntelangen Studien des renommierten Allen Institute for Brain Science in Seattle auf, das sich wissenschaftlich unter anderem der Entschlüsselung des visuellen Cortex von Mäusen verschrieben hat.
„Wir haben diese Daten in ein simuliertes Netzwerk von biologischen Neurone – also in ein Computer-Modell von einem Teil des Gehirns – übersetzt und konnten mit diesem biologischen Modell die Sehfunktion nachbilden“, sagt Maass. Das so simulierte neuronale Netzwerk kann die wichtigsten visuellen Aufgaben einer Maus erfüllen und ist gegenüber Störungen äußerst robust. Ein nächster Schritt wird nun sein, die Unterschiede zwischen der biologischen Sehfunktion der Simulation und der Sehfunktion von künstlichen neuronalen Netzwerken zu untersuchen.
Dass sich Forschende das Gehirn zum Vorbild nehmen, ist nicht neu, aber umso effektiver. Neuronale Netz des Gehirns sind nicht nur besonders leistungsfähig, sondern auch enorm energieeffizient. Neurone sind nicht ständig aktiv, sondern „feuern“ nur, wenn sie für eine Aufgabe gebraucht werden. Künstliche neuronale Netzwerke bilden dieses Vorgehen nach. Sie sind allerdings nur „gehirninspiriert“ und sowohl deren Neurone als auch die Architektur des Netzwerks sind ganz anders als im Gehirn. Daher sind biologische Simulations-Modelle wichtig, mit denen Forschende das Gehirn besser verstehen wollen.
Diese Erkenntnisse wiederum können aber in der Computertechnik eingesetzt werden, wie Wolfgang Maass anmerkt: „Wir starten gerade einen Pilotversuch mit dem Prozessorhersteller Intel und bauen unsere biologischen Modelle in seine neuromorphen Chips ein, um zu beobachten, ob sie dadurch wirklich energieeffizienter werden.“
Vollständiges Modell statt Approximation
Bisher wurden Funktionsweisen lediglich an kleinen Modellen – Approximationen des Gehirns mit geringer Detailtreue – nachgebildet. Dank großzügiger Rechenzeit an einem von Europas leistungsfähigsten Supercomputer in Jülich und Fortschritten im Chipdesign sowie der Software konnten die Grazer Forscher aber mit dem detaillierten biologischen Modell rechnen. „Wir haben gezeigt, dass dies mit dem heutigen Stand der Technik möglich ist und erwarten uns davon einen neuen Trend in der Forschung, der uns einen Schritt näher zum Verstehen des Gehirns bringt.“