Der Energiemarkt in Europa und insbesondere in Deutschland war in den vergangenen Jahren starken Änderungen unterworfen. Der wachsende Anteil erneuerbarer Energie hat einen wesentlichen Einfluss auf die Strompreise. Insbesondere für Steinkohlekraftwerke wechseln sich Zeiten, in denen sich der Betrieb der Anlage lohnt, mit Zeiten zu niedrigeren Preisen ab. Dies führt bei Anlagen, die nicht wärmegeführt sind, zu häufigeren Ab- und Anfahrvorgängen als in der Vergangenheit. Prognosen für die Zukunft lassen eine weitere Zunahme dieses Trends erwarten [1]. Es wird daher immer wichtiger, die Flexibilität der Kraftwerke zu erhöhen, indem der Anfahrvorgang möglichst effizient durchgeführt wird.
Wechselnde Beanspruchungen
Das Anfahren eines Bestandskraftwerks geschieht typischerweise nur teilautomatisiert. Zunächst werden die nötigen Voraussetzungen geschaffen. Dazu zählt etwa die Herstellung des Vakuums im Kondensator. Danach wird der Kessel gefüllt und die Umwälzpumpe in Gang gesetzt. Nach der Belüftung des Kessels werden manuell Ölbrenner in Betrieb genommen. Die Wärmeleistung wird anschließend schrittweise von Hand erhöht. Die Dampfproduktion erhöht sich, und im Kessel wird Druck aufgebaut. Zusätzlich steigen die Dampftemperaturen. Sobald die für die Trocknung der Kohle benötigte Lufttemperatur erreicht wird, kann eine Kohlemühle in Betrieb genommen werden.
Während des Anfahrens werden die Kesselbauteile, die mit Dampf in Berührung kommen, aufgewärmt. Dabei entstehen im Material Temperaturdifferenzen, die mit einer Wechselbeanspruchung durch mechanische Spannungen einhergehen. Diese sind umso ausgeprägter, je dicker die Wandstärke des Bauteils ist. Aus der Kesselauslegung ergibt sich für jedes dickwandige Bauteil ein vom Druck abhängiger zulässiger Bereich für die Temperaturdifferenz, bei dem frühzeitiger Verschleiß ausgeschlossen werden kann [2]. Die Dampftemperaturen dürfen nur so schnell gesteigert werden, dass die Temperaturdifferenzen diesen zulässigen Bereich nicht verlassen.
Der Anfahrvorgang des Kessels ist abgeschlossen, sobald Frischdampfdruck, Frischdampfmassenstrom und Frischdampftemperatur ihren jeweiligen Sollwert erreicht haben. Danach kann die Turbine angestoßen und mit dem Netz synchronisiert werden.
Optimierungspotenziale
Die damit verbundenen Kosten hängen im Wesentlichen vom Verbrauch der Brennstoffe ab, die vor der Synchronisation der Turbine und der Erzeugung elektrischer Leistung eingesetzt werden. Insbesondere die verbrauchte Menge Öl oder Gas ist von hoher Bedeutung, da diese Brennstoffe deutlich teurer sind als Steinkohle. Da der Brennstoff während des Anfahrvorgangs nicht für die Stromerzeugung genutzt werden kann, resultiert eine Brennstoffeinsparung während der Anfahrt auch direkt in eine Einsparung von CO2.
In Bestandsanlagen ist der Anfahrvorgang häufig gar nicht oder nur teilweise automatisiert. Aufgrund der unterschiedlichen Bedieneingriffe tritt eine beträchtliche Streuung der Kosten und der Dauer der Anfahrten auf. Darüber hinaus wird die übliche grobe Einteilung in Kalt-, Warm- oder Heißstarts dem großen Bereich möglicher Anfangsbedingungen nur unzureichend gerecht. Eine gute Automatisierung passt sich den realen Anfangsbedingungen stufenlos an, verbessert die Reproduzierbarkeit, verringert Wartezeiten und senkt so die durchschnittlichen Kosten.
Da die thermischen Spannungen in den dickwandigen Bauteilen verzögert auf die Wärmeleistung reagieren, ist es sehr schwierig, die Grenzen von Hand einzuhalten. Ein manuelles Anfahren ist aus diesem Grund entweder konservativ oder die zulässigen Temperaturdifferenzen werden überschritten. Mit einer Anfahrführung ist es möglich, die Begrenzungen auszunutzen, ohne sie zu überschreiten.
Außerdem wird in der Regel deutlich mehr Dampf erzeugt als notwendig. Dampf, der während der Anfahrt produziert und durch die Hochdruckumleitstation (HDU) zum Kondensator geleitet wird, ist aus energetischer Sicht verloren, da seine gesamte Exergie als Abwärme abgegeben wird. Um Brennstoffkosten und CO2 zu sparen, ist es sinnvoll, nur so viel Dampf zu produzieren, wie für den Druckaufbau und das Aufwärmen der Anlage benötigt wird. Auch dies kann eine Anfahrführung leisten.
Kurze Wartezeiten, zulässige Temperaturdifferenzen
Das Anfahrprogramm übernimmt die Aufgabe, während des Startvorgangs einzelne Aggregate und Funktionsgruppen rechtzeitig, aber nicht zu früh, in Betrieb zu nehmen. Wichtig ist, dass dieses Programm auf Störungen, wie etwa nicht zündende Brenner oder zusätzliche manuelle Maßnahmen, korrekt reagiert. Mit dem Anfahrprogramm werden Wartezeiten minimiert und eine Reproduzierbarkeit der Anfahrten erreicht.
Die Temperaturdifferenz ∆ϑ kann, wie in der Abbildung oben gezeigt, gemessen oder unter Verwendung eines dynamischen Modells der Wand aus der Temperatur ϑd des Mediums berechnet werden. Eine modellbasierte Berechnung hat unter anderem die folgenden wesentlichen Vorteile gegenüber einer Messung:
Es entsteht kein zusätzlicher Verzug beziehungsweise Fehler durch den verbleibenden Steg bei der Innenwandtemperaturmessung sowie durch die Trägheit der Temperaturmessungen selbst.
Die stationäre und die dynamische Genauigkeit der Differenz zweier Temperaturmessungen sind meist ungenügend.
Die Anfahrführung hat nun die Aufgabe, Wärmeleistung, Einspritzungen und HDU-Stellung automatisch so zu führen, dass die Temperaturdifferenzen ∆ϑ im zulässigen Bereich bleiben und möglichst wenig Dampf produziert wird. Da die Temperaturdifferenzen verzögert auf die Stellgrößen reagieren, muss die Anfahrführung vorausschauend sein.
Steag Energy Services hat für ein Steinkohlekraftwerk der Steag auf Basis der bisherigen manuellen Bedienweise ein Anfahrprogramm entwickelt und im Kraftwerksleitsystem implementiert. Es automatisiert die oben beschriebenen Vorgänge auf Basis von physikalischen Kriterien. Allein das schnellstmögliche Starten der Kohlemühle und das automatisierte Ein- und Abschalten von Ölbrennern führen zu einer signifikanten Einsparung gegenüber der bisherigen Fahrweise. Es wurde außerdem eine Anfahrführung mit der beschriebenen Funktionalität entwickelt und auf einem Industrie-PC implementiert, der über eine digitale Schnittstelle mit dem Kraftwerksleitsystem verbunden ist.
Die Abbildung oben zeigt die wichtigsten Größen für zwei Kaltstarts. Der manuell, gut durchgeführte Kaltstart ist in Rot dargestellt, der automatisierte in Blau. Der Zeitpunkt Null entspricht dem Zeitpunkt der Zündung des ersten Brenners. Folgendes zeigt sich für die automatisierte Anfahrt:
Vergleichbare Anfangsbedingungen wie für die manuelle Anfahrt (allerdings nicht identisch, auch die Zieltemperaturen weichen etwas voneinander ab)
Schnellerer Druckaufbau aufgrund der weiter geschlossenen HDU
Schnellere Zurücknahme der Wärmeleistung aus Öl nach dem Start der ersten Kohlemühle
Bei beiden Anfahrten wird die zulässige Temperaturdifferenz überschritten. Dies hängt jedoch mit dem Sprung der Temperatur von Umgebungstemperatur auf Sattdampftemperatur zusammen, wird also vom ersten Anströmen der Temperaturmessung mit Dampf verursacht. Diese Beanspruchung ist typisch für Kaltstarts und kann physikalisch nicht verhindert werden. Im weiteren Verlauf werden die Grenzen eingehalten.
30 Minuten früheres Anstoßen der Turbine
30 Minuten frühere Synchronisation
Der Ölverbrauch zwischen Zündung und Synchronisation ist etwa ein Fünftel, der Kohleverbrauch etwa 12,5 Prozent niedriger.
Eine Auswertung über mehrere Monate ergab, dass sich der durchschnittliche Anfahrwärmeverbrauch pro Anfahrt um rund ein Fünftel reduziert.
Weitere Informationen
[1] Energietechnische Gesellschaft im VDE (ETG): „Erneuerbare Energie braucht flexible Kraftwerke – Szenarien bis 2020, Gesamttext,“ VDE, 2012
[2] DIN EN 12952-3, „Water-tube boilers and auxiliary installations – Part 3: Design and calculation for pressure parts of the boiler,“ 2012