Für Siemens ist die sogenannte Vollbrückentechnik ein wichtiger Baustein für die Zukunft. Mit ihr können die positiven Eigenschaften von Wechselstrom (AC) mit denen von Gleichstrom (DC) in einer Lösung gebündelt werden: AC/DC. „Die Vollbrückentechnologie ist für einen erfolgreichen Netzausbau und damit auch für das Gelingen der Energiewende notwendig“, sagt Jan Mrosik, Chef der Siemens-Division Energy Management. Die Technologie wird in Stromrichterstationen der neuesten Generation eingesetzt. Im Oktober vergangenen Jahres hatte der Konzern einen Auftrag im Wert von 900 Millionen Euro über den Bau von zwei Stromrichterstationen für die Gleichstromverbindung Ultranet erhalten. Ultranet ist ein Gemeinschaftsprojekt der deutschen Netzbetreiber Amprion und TransnetBW. Sie wollen die erste von drei geplanten Hochspannungsgleichstrom-Übertragungsstrecken (HGÜ) zwischen Nord- und Süddeutschland realisieren. Die Verbindung läuft über 340 Kilometer von Osterath in Nordrhein-Westfalen bis nach Philippsburg in Baden-Württemberg. Eigentlich sollte Ultranet im Jahr 2019 an den Start gehen. „Doch wir hinken dem Zeitplan hinterher“, sagt Klaus Kleinekorte, Technikchef des Betreibers Amprion. „Wir hoffen auf Mitte bis Ende 2020.“
Herzstück von Ultranet sind Umrichter am Anfang und Ende der Leitung. Sie wandeln mit einer Übertragungsleistung von 2.000 Megawatt (MW) den Strom von Gleichstrom in Wechselstrom und umgekehrt um. Mithilfe der Vollbrückentechnologie lässt sich die Netzspannung regulieren und stabilisieren – eine Funktion, die derzeit vor allem konventionelle Kraftwerke übernehmen.
Störungen im Netz müssen grundsätzlich so schnell wie möglich geklärt werden, um eine Ausweitung zu verhindern. „Die Vollbrückentechnik klärt Fehler extrem schnell und kann so zuverlässig verhindern, dass sich Netzfehler zum Blackout ausweiten", erklärt Mrosik. Der Vorteil der Stromrichter liege zudem in der hohen Verfügbarkeit der Energieübertragung. Die Vollbrückentechnik ermögliche zudem die Fehlerklärung auf einer Gleichstrom-Freileitung bereits im Umrichter und begrenze dadurch die Störung und ihre Auswirkungen auf ein Minimum.
Ein weiterer Vorteil ist die „Schwarzstartfähigkeit“. Darunter versteht man die Möglichkeit, ein Netzsegment nach einem Stromausfall wieder mit Strom zu versorgen, um längere Ausfälle zu vermeiden. Die von Siemens eingesetzten abschaltbaren Leistungstransistoren (IGBTs) sollen wie ein Generator dabei unterstützen, auch ein spannungsloses Netzsegment selbstständig aufzubauen und sind damit schwarzstartfähig.
Hochspannungsgleichstrom-Übertragungsstrecken haben gegenüber Wechselstromübertragung eine Reihe von Vorteilen: Die Übertragungsleistung ist besser steuerbar und die Verluste auf Freileitungen sind niedriger als bei Wechselstrom. Daher ist die HGÜ-Technik erste Wahl für die verlustarme Übertragung großer Energiemengen auf langen Strecken. In Deutschland wird der Strom aus küstenfernen Offshore-Windparks per HGÜ in das Stromversorgungsnetz an Land eingespeist. HGÜ kann Netze mit unterschiedlichen Frequenzen zuverlässig verbinden und stabilisieren. Als länderübergreifende Netzkopplung ermöglicht sie den gezielten Austausch zwischen zwei Ländern.
Die Nachfrage nach Hochspannungsgleichstrom-Übertragungsstrecken steigt rasant. In den letzten 40 Jahren wurden weltweit HGÜ-Verbindungen mit mehr als 100 Gigawatt (GW) Kapazität installiert, das entspricht der Leistung von 100 Großkraftwerken. In diesem Jahrzehnt kommen laut Siemens etwa 270 GW hinzu. Der Markt für HGÜ werde sich von derzeit drei Milliarden Euro pro Jahr binnen fünf Jahren etwa verdoppeln. Siemens hat weltweit über 40 HGÜ-Projekte realisiert, ein Viertel davon in China. Über die Verbindungen fließt insgesamt eine Menge an elektrischer Energie, die dem durchschnittlichen Stromverbrauch von Spanien oder Italien entspricht.