Energy 4.0:
Herr Dürr, was versteht man bei Siemens unter virtuellen Kraftwerken?
Thomas Dürr:
Für uns ist ein virtuelles Kraftwerk ein Bündel von dezentralen Energieressourcen , also Erzeuger, Speicher und Verbraucher, deren Betrieb von einem Energiemanagementsystem gemeinsam geplant, verbessert und überwacht wird. Aus der abgestimmten Fahrweise resultieren zusätzliche Einsatzmöglichkeiten, zum Beispiel die Bereitstellung von Regel- und Reserveleistung, die Teilnahme an Energiemärkten, die normalerweise nur größeren Anlagen vorbehalten ist, oder die Bereitstellung von Systemdienstleistungen zur Unterstützung der Netzbetriebsführung. Die aktuelle Aufgabe für virtuelle Kraftwerke aber greift deutlich weiter: Überwacht und gesteuert über ein dezentrales Energie-Managementsystem, werden virtuelle Kraftwerke heute meistens gemeinsam mit Demand-Response-Funktionen betrieben. Demand Response wird definiert als kurzfristige und planbare Veränderung der Verbraucherlast als Reaktion auf Preissignale im Markt oder auf eine Aktivierung im Rahmen einer vertraglichen Leistungsreserve. Diese Marktpreise oder Leistungsabrufe werden durch ungeplante, unregelmäßige oder extreme energiewirtschaftliche Ereignisse ausgelöst. Nutznießer von Demand Response sind vor allem die Netzbetreiber, die kritische Netzsituationen damit vermeiden wollen.
Welche Leistung bietet Siemens?
Eine der neueren Leistungen, die wir zum Beispiel Stadtwerken anbieten, ist ein cloud-basierter Webservice für virtuelle Kraftwerke, der ebenfalls auf dem Siemens-Energiemanagementsystem DEMS basiert. Dieser Dienst versetzt Stadtwerke in die Lage, dezentrale Energieressourcen ihrer Kunden zusammenzuschalten und die gebündelte Leistung lokal zu nutzen oder einem größeren virtuellen Kraftwerk zur Vermarktung anzubieten. Die Besitzer der dezentralen Anlagen können über ein Webportal die erzeugte Leistung im virtuellen Kraftwerksverbund für die Vermarktung freischalten. Da die Standardfunktionen von DEMS zum Aufbau eines kleineren virtuellen Kraftwerks ausreichen, reduzieren sich die Softwareinstallationskosten im Vergleich zu einer Lizenz einer Vollversion. Außerdem braucht das Stadtwerk keine teure Rechnerhardware anzuschaffen. Im Rahmen eines hosted Service können wir Energiedienstleistern eine IT-Lösung für ein virtuelles Kraftwerk zur Verfügung stellen. Die Erzeugungskapazität der angebundenen dezentralen Anlagen wird dabei sowohl direkt vermarktet als auch in Form von Regelenergie über die entsprechenden Handelsplätze für Systemdienstleistung angeboten.
Stellen Sie die Technik dafür zur Verfügung?
Die dafür nötige Technik – Hardware und unser cloud-basiertes DEMS-Portal – stellen wir in einem Service Center zur Verfügung, auf das der Energiedienstleister via Benutzerschnittstelle zugreift. Omnetric, ein Gemeinschaftsunternehmen aus Siemens und Accenture, liefert und betreibt die dafür benötigte Infrastruktur. Zudem unterstützt Siemens den Energiedienstleister mit zusätzlichen Produkten bei der Anbindung der Leistungskapazitäten dezentraler Stromerzeugungsanlagen und -verbraucher, die über das virtuelle Kraftwerk vom Energiedienstleister vermarktet werden sollen.
An welchen Projekten arbeitet Siemens zu diesem Thema gerade?
In Wien beteiligen wir uns an einem Pilotprojekt, der Seestadt Aspern. Dort werden die Lastprofile in einem Studentenwohnheim ermittelt und mit der möglichen Eigenenergieerzeugung abgeglichen. Hierbei wird zum Beispiel berücksichtigt, ob der Student am Wochenende nach Hause gefahren ist. Statt weniger, standardisierter, sogenannter synthetischer Lastprofile wird es individualisierte Lastprofile geben, die einem Smart Grid ermöglichen, besser planen und steuern zu können. Mit der Darstellung von Vergleichsportalen im Online-Web-Portal lassen sich auch weiche Faktoren zur Energieeinsparung nutzen. Verbliebene Überschüsse sollen dann in einem nächsten Schritt im virtuellen Kraftwerk des Energieversorgers Wien Energie vermarktet werden. Auch ließen sich dadurch neue Stromtarife schaffen, die diese Prognosen berücksichtigen und einen Quasi-Flat-Tarif anbieten. Für die thermischen Kraftwerke wurde das virtuelle Kraftwerk mittlerweile aufgebaut und präqualifiziert. Ein weiteres Beispiel ist unsere Software-as-a-Service-Lösung auf Basis des dezentralen Energiemanagementsystems DEMS für ein Projekt in Finnland. Hier wird versucht, zusammen mit dem lokalen Energieerzeuger dezentrale Ressourcen in Einkaufszentren oder Smart Homes einzubinden, zu planen und letztlich bedarfsgerecht zu steuern.
Wie wird der Strom verkauft?
Für einen virtuellen Kraftwerksverbund kann unser dezentrale Energiemanagementsystem DEMS nicht nur im Markt für Minutenreserve genutzt werden, sondern auch im Sekundär- oder Primärregelenergiemarkt. Der Bedarf an der Regelenergie soll bis 2050 deutlich steigen. Die Spotmärkte Intraday und Day-Ahead wachsen kontinuierlich, deshalb werden sie auch für virtuelle Kraftwerke immer wichtiger. Neben den etablierten überregionalen Energiemärkten wird es aber auch im lokalen Verteilnetz immer wichtiger, Flexibilitäten für die Erzeugungsschwankungen zu nutzen. Microgrids oder Quartiersprojekte lassen sich heute schon so steuern, dass aufkommende Probleme bereits dort kompensiert werden, wo sie entstehen. Außer für den Aufbau und die Steuerung virtueller Kraftwerke ist DEMS auch für Aggregatoren nutzbar. Ihnen verschafft das Systems bei regenerativen Energieressourcen ein größeres Markpotential. Energiehändler können damit ihr Energieportfolio erweitern, und Betreiber von Microgrids können mit DEMS ihre Netze betreiben.
Welche Bedeutung hat die Thematik im Bezug auf die Energiewende?
Virtuelle Kraftwerke sind einer der wichtigsten Bausteine für Smart Grids und damit für die Gestaltung der Energiewende. Ohne virtuelle Kraftwerke lässt sich die steigende Anzahl verteilter und regenerativer Energieressourcen nicht mehr sinnvoll ins Netz und in die Märkte integrieren. Mit dem dezentralen Energiemanagementsystem DEMS geben wir Energieversorgern und Netzbetreibern ein Werkzeug in die Hand, dies in die Praxis umzusetzen.
Welche Rahmenbedingungen sind notwendig um virtuelle Kraftwerke weiter auszubauen und diese voranzutreiben?
Die derzeitigen deutschen SINTEG-Forschungsprojekte zeigen, wohin es in Deutschland gehen soll. Lokale Marktplätze unterstützen den Verteilnetzbetreiber in sich abzeichnenden kritischen Situationen ("gelbe Ampel"). Dort erhält er kurzfristig direkt oder über Aggregatoren die benötigten Flexibilitäten zur Vermeidung von Netzengpässen. In anderen Ländern geht es eher in Richtung Demand Response. In den USA ist der regulatorische Rahmen für Demand-Response- und Demand-Side-Management-Systeme bereits vorhanden. Bei uns ist dies nicht überall der Fall. Darüber hinaus muss man gerade bei größeren Erzeugern in der Industrie noch etwas Überzeugungsarbeit auf diesem Gebiet leisten und mit guten Argumenten Vertrauen schaffen, ehe mögliche Potenziale im virtuellen Kraftwerk bereitgestellt werden.
Wird Ihr virtuelles Kraftwerk mit Hilfe einer Siemens-Software gesteuert?
Herzstück unserer Lösungen für virtuelle Kraftwerke ist das dezentrale Energiemanagementsystem DEMS auf Basis unserer Smart-Grid-Anwendungsplattform Energy IP. Virtuelle Kraftwerke sind eines der wichtigsten Einsatzfelder des Energiemanagementsystems für dezentrale Energieressourcen. Da in diesem virtuellen Kraftwerk hunderte beziehungsweise tausende Anlagen integriert werden und in Zeiträumen von Viertelstunden agieren, ist eine manuelle Steuerung nicht mehr möglich. DEMS sorgt für vollautomatisierte Prozesse. Zudem übermittelt das System die Verfügbarkeit und Produktionsdaten der beteiligten Teilnehmer an eine zentrale Plattform. Diese erstellt daraus Prognosen für die Energiemengen, die in den Handel gehen können. Eine weitere Option ist das Active Network Management, ANM, eine Software, die Siemens für die vollautomatische Steuerung von Stromnetzen entwickelt hat. Basis dafür ist eine Lastflussrechnung. Das ANM hat Zugriff auf eine Datenbank, in der die Netzstruktur oder die Topologie sowie die Daten zu allen Komponenten enthalten sind. Die Software erfasst den aktuellen Zustand des Stromnetzes, erkennt Probleme, findet Lösungen und steuert das Netz entsprechend. Für Energieeinspeisung und Verbrauch berechnet ANM, wie sich die Lastflüsse über das Netz im Kurzfristbereich verteilen.
Wie kann es vor Hackerangriffen geschützt werden?
Wir bieten Energieversorgern und Netzbetreibern passende Lösungen, um den Herausforderungen, die die Cyber Security an sie stellt, begegnen zu können. Dazu gehört zum Beispiel die Sicherheit von Produkten: Siemens-Produkte sind normenkonform und erfüllen die jeweiligen landesspezifischen regulatorischen Anforderungen hinsichtlich Cyber Security. Dazu gehört zum Beispiel auch das dezentrale Energiemanagementsystem. Wir arbeiten in Standardisierungsgremien mit, um neueste Technik und Erkenntnisse in die Standards und in die Produkte und Systeme einzubringen. Unsere Experten sind jedoch nicht nur in den einschlägigen internationalen Standardisierungsorganisationen vertreten, um beispielsweise den Sicherheitsstandard für Smart Grids weiter zu verbessern. Sie beraten außerdem auch Aufsichtsbehörden bei technischen und prozessbezogenen Themen. Dank unseres unternehmensweiten Cyber Emergency Response Teams, kurz CERT, hat Siemens einen weltweiten Überblick über neu auftretende Bedrohungen, die unter anderem die Cyber Security von Stromversorgungsnetzen betreffen.
Stichwort dezentrales Energiesystem: Wie passen beide Themen zusammen?
Ohne nötige und hinreichende Sicherheitsmechanismen wird kein Betreiber einer dezentralen Stromerzeugungsanlage bereit sein, an einem virtuellen Kraftwerk teilzunehmen. Andererseits darf die Sicherheit nicht mehr kosten als man durch die zusätzliche Vermarktung einnehmen kann. Beide Themen müssen sinnvoll vereint werden.
Ist das Netz der Zukunft nur virtuell?
Nein, ganz so weit wird es nicht kommen. Allerdings wird die Wichtigkeit reiner physikalischer Leistungserbringung und Steuerung immer mehr durch zusätzliche IT-Lösungen und -Dienstleistungen, beispielsweise Prognosen, ergänzt. Dieser Value Add wird immer wichtiger, um Kunden zu binden.
Wie sieht es in fünf Jahren aus?
Weiter in die Zukunft geschaut, könnte es sein, dass Wertschöpfungsketten durch die fortschreitende Digitalisierung weiter aufgebrochen und sich im Rahmen einer Shared Economy Ideen wie die Blockchain-Technik durchsetzen werden.