Bei einem kompletten Lieferstopp russischer Gaslieferungen in den kommenden Monaten kann man die Defizite auch bei ausreichender Verfügbarkeit von Flüssiggas kurzfristig nicht ausgleichen. Im kommenden Winter fehlen daher in Deutschland bis zu 30 Prozent (in Europa 25 Prozent) der im Vorjahr verfügbaren Erdgasmenge.
Der Grund: Die technische Infrastruktur des Erdgasnetzes lässt sich nicht so schnell umbauen. Bis 2025 könnte sich die Versorgungslücke jedoch durch einen Ausbau der Infrastruktur und einen erwarteten Rückgang des Gasbedarfs schließen. Zu diesem Ergebnis kommen Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin in einem Gutachten im Auftrag von ESYS, einer gemeinsamen Initiative der Wissenschaftsakademien Acatech, Leopoldina und Akademieunion.
Erstmals liegt damit eine Untersuchung vor, welche die Auswirkungen eines Lieferstopps nicht nur bilanziell, sondern mit Hilfe der Modellierung des Gasnetzes detailliert untersucht. Dies erlaubt Empfehlungen zu konkreten Maßnahmen, um die Infrastruktur zu optimieren. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche technischen Veränderungen am Gasnetz notwendig sind, um alle Länder der Europäischen Union und die Ukraine mit Gas zu versorgen.
Pipeline-Importe verbessern Problematik kaum
Das Gutachten untersucht die Situation, wenn das Gas nicht mehr von Nordosteuropa nach West- und Südeuropa fließt, sondern in umgekehrter Richtung von West- und Südeuropa (wo die meisten LNG-Häfen liegen) nach Osteuropa. Auch bei dieser Umkehr der Flussrichtung wäre eine Versorgung aller Länder mit ähnlichen Mengen wie bisher nicht möglich.
Das Pipelinenetz hat seine stärkste Auslegung im Osten und verzweigt sich wie ein Adersystem. In einem solchen Netz ist Flussumkehr nicht so leicht möglich, denn es gibt nur eine begrenzte Zahl von Einspeisepunkten mit technisch limitierter Kapazität. Hinzu kommen die fehlenden deutschen LNG-Terminals, um das per Schiff gelieferte Flüssiggas aufzunehmen und einzuspeisen.
Pipeline-Importe aus Norwegen, Algerien und der Türkei, die aber nur um wenige Prozentpunkte erhöht werden können, sind unverzichtbar, aber sie verbessern die Situation kaum. Kurzfristige Anstrengungen zur Senkung des Erdgasbedarfs, so die Schlussfolgerung im Gutachten, sind aus diesem Grunde essenziell.
Für die Simulation des europäischen Gasnetzes kam die bei Fraunhofer SCAI entwickelte Simulationssoftware MYNTS (Multiphysical Network Simulator) zum Einsatz. Mit dem von zahlreichen Netzbetreibern eingesetzten Programm lassen sich Betrieb und Planung komplexer Netze für Gas, Strom und Wasser analysieren und optimieren.
MYNTS modelliert und simuliert die Netze als System von Algebro-Differentialgleichungen. Bei der Simulation zeigt sich sofort, wie sich Änderungen verschiedener Faktoren, etwa limitierte Durchflussmengen, auswirken.