Seit der deutsche Energiemarkt 1998 liberalisiert wurde, haben die rechtlichen und organisatorischen Grundlagen des Energiemarktes eine umfassende Modernisierung erfahren. Das Energiesystem, also die technisch-organisatorische Grundlage, hat bei diesem Wandel allerdings nicht Schritt gehalten. Die Energiewende und der damit verbundene Ausbau der erneuerbaren Energien üben zusätzlichen Druck auf die Netzbetreiber zur Modernisierung aus. Um die Chancen der Liberalisierung wahrnehmen zu können und gleichzeitig die wachsenden Anforderungen an „intelligente“ Stromnetze zu bewältigen, müssen sie mittelfristig die technologischen Möglichkeiten von Internet-basierter Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) nutzen. Die heutige Entwicklung von „Smart Grid ready“-Komponenten und Systemen ist die logische Reaktion der Industrie insbesondere auf die weiter wachsenden Herausforderungen an die Stromversorgung, die aus der Integration der erneuerbaren Stromerzeugungskapazitäten in das Energiesystem herrühren.
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht vor, dass der weitere Ausbau der Erneuerbaren in einem gesetzlich festgelegten Ausbaukorridor erfolgt: 40 bis 45 Prozent im Jahre 2025, 55 bis 60 Prozent im Jahr 2035. Die bisherigen Ausbauziele werden also prinzipiell beibehalten. Damit besteht weiterhin die Notwendigkeit, das deutsche Stromversorgungssystem technisch-organisatorisch an die besonderen Anforderungen des Umbaus in Richtung erneuerbare Energien anzupassen.
Betriebskritische Technologien nötig
Die Energietechnik-Hersteller haben in den letzten Jahren intensiv an der Entwicklung von sogenannten betriebskritischen Technologien für ein intelligentes Energiemanagement gearbeitet. Diese nutzen etwa moderne Informations- und Kommunikationstechnik, um auch dezentrale Schutz- und Leiteinrichtungen in Kombination mit Leistungselektronik für die Aufrechterhaltung einer sicheren Stromversorgung anbieten zu können. Dazu zählen Online-Systeme für Netzstabilität und Notfallprozeduren – sogenannte selbstheilende Netze – genauso wie integrierte Verteilnetz-Leitsysteme, Betriebsüberwachungssysteme für Umspannwerke und dezentrale Systeme zum Management von Energieressourcen.
Dabei profitiert die Energiewirtschaft auch von den Erfahrungen und dem Know-how der industriellen Automatisierungstechnik, da aus diesem Anbieterspektrum etwa Fernwirk-Module zur Verfügung stehen, die eine Alternative zur tradierten, proprietären Rundsteuertechnik darstellen. Kostenaspekte und die Notwendigkeit zur Einbindung von Fernwirktechnik in übergeordnete Automatisierungsstrukturen haben einen Trend zur Nutzung offener Fernwirkprotokolle wie IEC 60870, IEC 61850, IEC 61400 und Modbus geschaffen.
Netz-Managementsysteme als zentrales Element
Die Energiewende erfordert zunehmend eine Anpassung der Rolle des Verteilnetzbetreibers (VNB) an die neuen Herausforderungen. Insbesondere die Verlagerung von Kraftwerksleistung von Großanlagen hin zu dezentralen Erzeugungseinheiten (zunehmend als Flächenkraftwerke bezeichnet) erfordert eine aktive Rolle der VNB bei der Erbringung von Systemdienstleistungen.
Anlagen der erneuerbaren Energien, verteilte konventionelle Erzeugungsanlagen, Lastmanagement und dezentrale Speicher werden häufig unter dem Begriff der dezentralen Energieressourcen (DER) zusammengefasst. Auf internationaler Ebene besteht der Trend, die Steuerung der DER den sogenannten Aggregatoren zu übergeben, die dann Flächenkraftwerke oder virtuelle Kraftwerke (Virtual Power Plants, VPP) betreiben. Energietechnik-Anbieter untersuchen in verschiedenen Smart-Grid-Pilotprojekten einen mehrstufigen Ansatz, in dem der netzgetriebene Betrieb von DER unter Mitwirkung der Marktrolle eines Aggregators demonstriert wird.
So wird etwa im Projekt NiceGrid von Alstom und ERDF unter anderem untersucht, wie ÜNB und VNB gemeinsam Minutenreserve einkaufen, welche sie für die Netzstabilisierung der unterschiedlichen Spannungsebenen in der Region von Nizza benötigen. Moderne Verteilnetz-Managementsysteme fassen die Funktionen Scada (Supervisory Control and Data Acquisition), Ausfallmanagement sowie Fehler- und Netzanalyse auf einer Softwareplattform unter einer gemeinsamen Benutzeroberfläche zusammen. Solche Systeme unterstützen die Verantwortlichen in den Netzleitstellen durch Handlungsvorschläge und automatisierte Abläufe wie in einem Störungsfall.
Intelligente Ortsnetzstationen
Ortsnetzstationen können durch den Einsatz von Remote Terminal Units (RTU), intelligenten Kurzschlussanzeigern und Sensoren auf die neuen Anforderungen angepasst werden. Sie verfügen zum Beispiel neben motorisierten Mittelspannungsschaltern auch über regelbare Ortsnetztransformatoren sowie kleine Fernwirk- und Automatisierungskomponenten – ein erster Schritt in Richtung selbstheilendes Netz, dessen Funktionalität bereits in den Niederlanden in einigen Pilotnetzen untersucht wird.
Regionale Energieversorger wie das Allgäuer Überlandwerk AÜW gehen hier als „early adopter“ mit dem Irene-Projekt im Energiedorf Wildpoldsried voran und nutzen die heutigen technischen Möglichkeiten nicht nur, sondern wollen auch die möglichen Einsparungen bei den Netzausbaukosten für Erneuerbare auf Basis ihrer Erfahrungen quantifizieren. Es ist zu erwarten, dass eine steuerbare Ortsnetzstation kombiniert mit einem Batteriespeicher rund 400.000 Euro jährliche Ausbaukosten einsparen kann (siehe auch S. 25).
Mit Hilfe des von der Bundesregierung geförderten Projekts Green2store der Förderinitiative Energiespeicher erforscht ein Konsortium aus den Branchen Energie, IT- und Kommunikationstechnik, wie dezentrale Speichersysteme eine Steigerung der Netzaufnahmefähigkeit für erneuerbare Energien erreichen können. Die Süwag Energie ist hier ein Vorreiter in Sachen Speichereinsatz, die einen Lithium-Ionen-Batteriespeicher mit einer Kapazität von 135 kWh im Niederspannungsnetz südlich von Heilbronn installieren wird.
Smart Grid weltweit
Auch die USA arbeiten intensiv an zukunftssicheren Lösungen für intelligente Netze. Das Pacific Northwest Smart Grid Demonstration Project (PNW-SGDP) testet in fünf amerikanischen Bundesstaaten (Washington, Oregon, Idaho, Montana und Wyoming) unter Einbeziehung von 60.000 Verbrauchern „intelligente“ Lösungen sowohl für Haushaltsgeräte als auch Netzkomponenten.
Und das North Carolina Smart Grid Project in Charlotte untersucht unter Leitung des amerikanischen Energieministerium (DOE) die effiziente Einbindung dezentraler Energieerzeuger in die primären und sekundären Verteilnetze. Das Projekt ist Teil der DOE-Maßnahmen zum Erreichen der bis 2030 angestrebten Fortschritte bei intelligenten Netzen – darunter eine Steigerung der Systemeffizienz um 40 Prozent.