Endlich sitzen wir ihm an einer Raststätte gegenüber, irgendwo an der Autobahn zwischen Berlin, Magdeburg und Rostock, die gerade am Weg des umtriebigen Managers liegt. Da erklärt er uns, dass sich im Vorstand seines Unternehmens eigentlich vier Personen zum idealtypischen Super-Manager vereinigen, wie es ihn in der Praxis gar nicht geben kann: Zunächst Arne Weichbrodt, für Softwareentwicklung und Technologie zuständig, ein strukturierter aber philosophisch geprägter Physiker, mit dem strategischem Denken von der Präzision eines Schachspielers gesegnet. Dann der für Anwendungsberatung verantwortliche Andreas Lehmann, ein militärisch erprobtes Organisationstalent, das verlässlich seine Mannen in Gang setzt - von unschätzbarem Wert bei Projekten. Und der dritte im Bunde, der Ex-Banker Thomas Heuer, der seit Jahren die finanzielle Stabilität der SIV überwacht und absichert.
Fehlt da nicht noch wer? „Und dann gibt�??s mich“, sagt Jörg Sinnig mit der feinen Zurückhaltung, die uns in der folgenden Stunde noch mehrmals begegnet. „Unsere Organisation ist davon geprägt, dass meine Meinung beeinflussbar ist durch andere, die in der Summe ganz viel Intelligenz und Kompetenz in unterschiedlichen Bereichen mitbringen.“ Nicht leugnen will er allerdings, dass er sich „die Firma vor geraumer Zeit ausgedacht“ hat und mehrere Monate ihr einziger Mitarbeiter war.
Vom Schiffbaukonstrukteur zum IT-Architekt
In die Wiege gelegt wurde ihm die Idee zum IT-Lösungsanbieter für Unternehmen der Energie- und Wasserwirtschaft nicht gerade, war er doch vor der Wende Schiffbaukonstrukteur. „Das sind die Künstler unter den Schiffbauern“, schürt Sinnig die Spannung. „Die haben den Vorteil, dass sie von allem etwas verstehen, aber von keiner Sache genug“. Als Bescheidenheit will er diese Aussage aber nicht gelten lassen: „Bei mir ist es wahrhaftig so, dass ich in der Lage bin, mich in viele Themen schnell einzuarbeiten und mir auch Lösungen auszudenken, dann bin ich aber auch wieder raus.“ Bevor man ihm das als Sprunghaftigkeit auslegen könnte, setzt er nach: „Intelligenz hat ja viele Dimensionen. Meine ist so beschaffen, dass ich schnell Lösungen finde, und sehr vielschichtig strukturierte Probleme relativ schnell vereinfachen kann.“
Auf den Titel „Bill Gates von Bad Sülze“ aus der Bild-Zeitung ist er angesichts der nur etwa 2000 Einwohner seines Heimatdorfes nicht übermäßig stolz, war aber durchaus lange Jahre der oberste Software-Architekt seines stürmisch wachsenden IT-Unternehmens. „Erst habe ich richtig programmiert, mir dann aber bald Datenmodelle ausgedacht. Da profitiert unsere Software heute noch ein bisschen davon, dass wir ungewöhnliche Lösungswege in der Modellierung gefunden haben.“
Anlass dazu gab 1992 eine Präsentation zehn Kilometer nördlich von Sinnigs Heimatort bei der „Wasser und Abwasser GmbH Boddenland“, die damals ihre Abrechnung automatisieren wollte. Eine schicksalshafte Begegnung - Sinnig brachte als Anschauungsmaterial mangels fertiger Lösung noch eine in Word „handgeschnitzte“ Rechnung als Muster mit. „Keiner hat damals etwas von Abrechnung verstanden, bis wir über diesen Kontakt herausgefunden haben, was die Bedürfnisse der Versorgungswirtschaft waren“, erinnert er sich.
Dass SIV sich in der Versorgungswirtschaft zuhause fühlt, ist kein Zufall. „Wir sind in den 90er Jahren noch durch die Dörfer gezogen und haben einen Markt gesucht, der möglichst dauerhaft und liquide ist“, erinnert sich Sinnig an die Anfänge seines Unternehmens. „Da sind wir bei der Versorgungswirtschaft hängen geblieben“. Ein „sukzessiver Erkenntnisprozess“ schloss sich an die Boddenland-Initialzündung an. Erst Debitorenbuchhaltung, später das Auftragswesen. „Schritt für Schritt ist ein System entstanden, das davon geprägt war, dass wir auf der einen Seite keine Ahnung hatten, auf der anderen Seite eine Lösung fanden, die einen allgemeineren Ansatz verfolgte.“ Wie das geht? „Weil wir nicht wussten, wie der gewöhnliche Ansatz funktioniert, wollten wir einen ungewöhnlichen Weg gehen und als gute deutsche Ingenieure eine Lösung bauen, die relativ viele Freiheitsgrade hat.“ Fast entschuldigend - ja, wir hatten danach gefragt - fügt er hinzu: „Diese Sicht auf die Welt habe ich noch ganz gut geprägt in den Anfangsjahren.“
Tugend, die aus der Not erwächst
Tatsächlich ist Sinnig ein Meister darin, aus einer Not eine Tugend zu machen: Visitenkarte im Auto vergessen? Kein Problem, die Rückseite eines Karton-Eintrittskärtchen einer Robotron-Veranstaltung kommt da als Ersatz zupass, um als bisher originellste Visitenkarte in unsere Sammlung einzugehen.
Apropos Not: „Wir haben uns aus der Not heraus auch noch andere Gedanken gemacht und schon 1994 gesagt: Versuchen wir es doch mit einer gemeinsamen Datenhaltung für alle Unternehmensbereiche.“ So entstand ein schnittstellenfreies Echtzeitsystem. „Wir glauben, dass das immer noch ganz genial ist und die Welt noch nichts Besseres gefunden hat.“ Nanu? Das Ende der Bescheidenheit? Aber wir reden nicht von persönlichen Leistungen, sondern vom Unternehmen und seinem Produkt, und Stolz spricht aus Sinnigs leuchtenden Augen.
Als Glücksgriff erwies es sich, schon Anfang der 90er Jahre auf Oracle als Datenbank gesetzt zu haben. Das damals noch überschaubar große Unternehmen ist heute „ein riesenriesenriesenriesengroßer Weltkonzern mit immer noch genialen Technologien“ verkündet Sinnig samt Crescendo und wild ausufernden Handbewegungen. „Es gibt aber Leute bei Oracle, mit denen wir wirklich noch so zusammenarbeiten, wie es in der guten alten Zeit möglich war.“ Mit Erfolg: 2010 sei man in San Francisco ausgezeichnet worden, nachdem sich das bisherige Oracle-Lizenzmodell als zu sperrig für die Versorgungswirtschaft erwiesen hatte. Das neue Modell, „das die normale Oracle-Metrik komplett außen vor lässt“, habe die Basis für eine Menge Umsätze geschaffen - „der einzige Maßstab, nach dem unsere amerikanischen Freunde messen“, lacht Sinnig.
Neue Märkte: Mut oder Selbstüberschätzung?
Neben der integrierten Datenhaltung ist ein ganz zentraler Punkt der SIV-Philosophie die Flexibilität der Software: „Alles was wir tun ist bei uns modellierbar und parametrisierbar. Kein Kunde muss mit irgendwelchen Programmwerkzeugen arbeiten“, freut sich Sinnig. „Weil wir in der Lage sind, bestimmte Geschäftsmodelle parametrisierbar abzubilden, sparen wir uns aufwendige Anpassungslösungen“, grenzt er die Philosophie gegen Mitbewerber ab. Heute kann das System auf deutschem Versionsstand in Bulgarien nach den dortigen Marktregeln arbeiten, in China Wärme abrechnen, in Algerien Wasser und in Mazedonien Strom.
Wie kam es zu dieser „Internationalisierung“? „Das war wahrscheinlich eine gesunde Dimension an Selbstüberschätzung“, nimmt Sinnig frühen Übermut mit Humor. „Aber mit unserem Ansatz konnten uns relativ flexibel auf andere Anforderungen einstellen.“ Der Drang Richtung Osteuropa hat sich wider Erwarten für sein Unternehmen nicht bewährt - mit der Ausnahme von Bulgarien, wo „wir dank starker Partner unseren größten Kunden gewonnen haben, bei dem wir jeden Monat 1,6Millionen Zähler abrechnen dürfen“.
Sollte man in Osteuropa für ein ostdeutsches Unternehmen nicht Startvorteile erwarten dürfen? Da senkt der sonst so unbeschwert wirkende Geschäftsmann plötzlich die Stimme: „Man hat als ostdeutsches Unternehmen nirgends einen Startvorteil in dieser Welt“.
Herbeireden könne man solche Marktvorteile zwar, sie existieren nach Ansicht des Mecklenburgers aber nicht. Dennoch: „Ich bin Lokalpatriot“, gibt er zu Protokoll. „Aber ich sehe keine Vorteile. Wir verkaufen Applikationen, und da ist der Maßstab einfach: Das passt oder passt nicht.“
In immer mehr Versorgungsunternehmen scheint die Software zu passen, und so ist Sinnig heute als oberster Repräsentant der Firma viel unterwegs, um mehr zu erfahren über „Sorgen und Forderungen des Marktes sowie Sorgen, Nöte und Ansprüchen der Kunden.“ „Ich bin von Natur aus nicht so ein begeisterter Weltreisender, aber ich mache das gern“, sagt er, nicht ohne hinzuzufügen: „Aber am wohlsten fühle ich mich zuhause.“