Durch den Einsatz von Advanced Process Control (APC) lässt sich die Betriebsführung von biologischen Kläranlagen hinsichtlich Ablaufqualität und Energiebedarf verbessern. Der Vergleich eines neuen Automatisierungskonzepts basierend auf einem Model-Predictive-Control-Ansatz (MPC) mit einer klassischen Automatisierung macht dies deutlich. Beide Regelstrategien wurden dazu mit realen PLS-Komponenten (Prozessleitsystem) nachgebildet und zur Verifikation mit einem kontinuierlichen Simulationsmodell für die biochemischen und hydraulischen Prozesse einer Kläranlage gekoppelt. Die Arbeiten erfolgen in Kooperation des Kläranlagen-Betreibers hanseWasser Bremen mit Siemens als Automatisierungs- und Technologie-Lieferant.
Betreiber von kommunalen und industriellen Kläranlagen müssen einen Kompromiss zwischen sicherer und wirtschaftlicher Betriebsführung finden: Einerseits verlangen private, gewerbliche und industrielle Kunden stabile Preise, andererseits führen kontinuierlich strenger werdende gesetzliche Auflagen im Hinblick auf die Abwasserqualität zu einer immer aufwendigeren Betriebsführung. Das Betriebspersonal steht vor einer komplexen Aufgabe, die ohne den Einsatz moderner Leit- und Automatisierungstechnik kaum sicher erfüllt werden kann. Der weitgehend automatisierte Betrieb von Kläranlagen gilt als Stand der Technik. Aus Sicht der Automatisierungstechnik ergeben sich dabei folgende Herausforderungen: Einige der für die Prozessführung relevanten Konzentrationen können nicht oder nur mit hohem Aufwand online gemessen werden und stehen deshalb nur in größeren zeitlichen Abständen als Laborproben zur Verfügung. Der Kläranlagezulauf unterliegt starken Schwankungen, sowohl im Hinblick auf die Menge, als auch auf die Inhaltsstoffe. Gründe hierfür sind zum einen witterungsbedingte und saisonale Schwankungen, zum anderen das Verhalten der zahlreichen Privatpersonen und Industriebetriebe, die Abwässer in das Kanalnetz einleiten. Hinzu kommt die Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, da Einleitungswerte in einer erteilten wasserrechtlichen Erlaubnis bezogen auf eine Kläranlage auch nachträglich über den Stand der Technik hinaus verschärft werden können. Hinzu kommt, dass kommunale Kläranlagen mit einem jährlichen Energiebedarf von zirka 4.000 GWh in Deutschland zu den größten kommunalen Energieverbrauchern gehören.
Energiebedarf mit MSR-Technik reduzieren
Der größte Hebel den Energiebedarf zu reduzieren liegt in der Belüftung der Belebungsbecken der Kläranlage: Da der Luftsauerstoff von den Bakterien nicht direkt genutzt werden kann, muss er zunächst im Wasser gelöst werden. Dazu werden überwiegend Volumenbelüfter verwendet, die von Gebläsen gespeist werden. Zirka 60 bis 70 Prozent des Energieverbrauchs auf Kläranlagen entfallen auf diese Gebläse.
Zur Reduzierung des Energiebedarfs wird die Sauerstoffkonzentration im Belebungsbecken durch den Einsatz von MSR-Technik (Mess-, Steuer- und Regelungstechnik) kontinuierlich geregelt, weitere Eingriffe erfolgen zumeist nur manuell durch das Bedienpersonal. Klassische Automatisierungslösungen verwenden meist Hilfsgrößen wie die Sauerstoffkonzentration in den Belebungsbecken als Regelgrößen. Die Sollwerte werden dann so gewählt, dass die Ablaufwerte für die relevanten Schadstoffe in jedem Fall eingehalten werden. Dies führt häufig zu vergleichsweise hohen Sauerstoffkonzentrationen und damit verbunden zu einem hohen Energiebedarf.
Anlage mit vorausschauender Fahrweise regeln
Die direkte Regelung der Ablaufkonzentrationen gestaltet sich im klassischen Automatisierungskonzept schwierig, da die meisten verfügbaren Stelleingriffe auf einer Kläranlage gleichzeitig auf mehrere Prozessgrößen wirken. Üblicherweise genutzte einschleifige Regler, wie zum Beispiel PI–Regler, sind daher nur bedingt geeignet. Der erwähnte MPC-Regler ist dagegen in der Lage, auch ein solches Mehrgrößenproblem direkt zu adressieren. Dafür müssen die Teilübertragungsfunktionen aller Stellgrößen auf alle Regelgrößen identifiziert und für die Parametrierung des MPC genutzt werden. Der MPC-Regler berücksichtigt dann direkt die internen Verkopplungen.
Durch die direkte Regelung der verschiedenen Stickstoffkonzentrationen (Ammonium- und Nitrat-Stickstoff) im biologischen Teil der Kläranlage ist es möglich, mit einem geringeren Energieeinsatz die gesetzlichen Vorgaben zu erreichen beziehungsweise zu unterschreiten. Je nach Belastung der Anlage stellen sich dabei geringere Sauerstoffkonzentrationen in den Belebungsbecken ein als bei konventioneller Regelung. Das dabei erzielbare Energieeinsparpotenzial ist erheblich.
Wirken Störungen auf die Kläranlage, die negative Folgen für die Ablaufwerte haben, wie zum Beispiel eine höhere Belastung in Form eines erhöhten Zulaufs, so können diese bei einer Regelung der Stickstoffwerte berücksichtigt werden. Der MPC-Regler kann die Zulaufmenge als messbare Störgröße für eine Kompensation nutzen. Er ist dann in der Lage, vorausschauend auf die Störung zu reagieren und die Stickstoffwerte weiterhin unter den gesetzlichen Grenzwerten zu halten. Dies geschieht voll automatisiert und ohne Benutzereingriffe.
Simulation vor Einsatz in einer Kläranlage
Vor einer Felderprobung ist ein Proof-of-Concept vorgesehen: Um bei der Pilotierung der Kläranlage Bremen-Seehausen unerwünschte Betriebszustände zu vermeiden, wird ein von hanseWasser Bremen und Gelsenwasser entwickeltes und parametriertes Simulationsmodell (ZAKEN) verwendet. Mit diesem Modell wird nachgewiesen, dass die MPC-Lösung einen sicheren Anlagenbetrieb gewährleistet und gleichzeitig weniger Energie für die Belüftung der Belebungsbecken benötigt. Zur Prozessführung wird das Prozessleitsystem Simatic PCS 7 von Siemens eingesetzt, in dessen Advanced Process Library der MPC-Funktionsbaustein ModPreCon standardmäßig integriert ist.
Für die Regelung der Stickstoff-Fraktionen Ammonium und Nitrat im Belebungsbecken stehen zwei Stellgrößen zur Verfügung: die Belüftung der Nitrifikationsbecken sowie die Rezirkulationsmenge. In der bisherigen Automatisierung wird die Belüftung über einen PI-Regler geregelt, der mit einem konstanten Sollwert für die Konzentration des gelösten Sauerstoffs in den Nitrifikationsbecken arbeitet. Die Rezirkulationsmenge wird anhängig von der Nitrat-Konzentration im Ablauf der Denitrifikationsbecken geregelt. Mit diesem Regelungskonzept ist es nicht möglich, einzelne Stickstoffkonzentrationen gezielt zu beeinflussen. Aus Sicherheitsgründen erfolgt die Vorgabe der Sollwerte so, dass die Ablaufwerte zu Lasten möglicher Energieeinsparungen weit unter den gesetzlichen Grenzwerten liegen.
In dem neu entwickelten Regelungskonzept können durch die Verwendung eines modellbasierten Prädiktivreglers die Konzentrationen von Ammonium und Nitrat gezielt beeinflusst werden. Konzentrationswerte, die den gesetzlichen Grenzwerten zu nahe kommen, können so einzeln und zielgerichtet reduziert werden. Da dies phasenweise mit einer geringeren Sauerstoffkonzentration und einer geringeren Rezirkulationsmenge einhergeht, kann Energie für die Belüftung der Nitrifikationsbecken sowie für den Betrieb der Rezirkulationspumpen eingespart werden. Die notwendigen Stellgrößen des MPC-Reglers sind die Sauerstoffkonzentration im Nitrifikationsbecken, die unterlagert mit einem PI-Sauerstoffregler geregelt wird, und die Rezirkulationsmenge. Darüber hinaus erfolgt eine Messung der Zulaufmenge, die für eine dynamische Störgrößenaufschaltung genutzt wird.
Da der MPC im Mittel einen geringeren Sollwert für die Konzentration des gelösten Sauerstoffs im Nitrifikationsbecken ausgibt, kann über die betrachtete Zeitspanne von 240 Tagen 5,4 Prozent Energie bei der Belüftung des Nitrifikationsbeckens im Vergleich zur klassischen Regelung eingespart werden. Der Nachweis des Einsparpotenzials erfolgt über eine dynamische Simulation, wie sie für die zeiteffiziente Analyse von Kläranlagen (www.zak-en.de) genutzt wird.
APC führt zu geringerem Energiebedarf
Bei der Untersuchung einer biologischen Kläranlage zeigen sich in der Simulation betriebliche und wirtschaftliche Vorteile der Anwendung von APC. So wird nicht nur die Ablaufqualität durch die Kappung von Ablaufspitzen verbessert, sondern darüber hinaus auch der Energiebedarf, insbesondere für die Belüftung der Belebungsbecken, um bis zu fünf Prozent gesenkt. Die Bereitstellung des MPC-Reglers als Standard-Funktionsbaustein von Simatic PCS 7 sowie die serienmäßigen Inbetriebnahme-Tools machen den Einsatz ebenfalls für Anwender ohne langjährige Erfahrungen mit gehobenen Regelungsverfahren einfach.
Durch weitere Untersuchungen sollen die für reale Anlagen erreichbaren Verbesserungen durch einen Pilotbetrieb in Bremen-Seehausen ermittelt werden. Darüber hinausgehend soll geprüft werden, mit welchem Aufwand die gefundenen Reglerentwürfe auf vergleichbare Anlagen übertragen werden können.