Die Herausforderungen vor denen die Produktionstechnik steht, lassen sich langfristig nur mit verstärktem Einsatz von fertigungsnaher bzw. prozessintegrierter Messtechnik realisieren. So ist etwa der Trend hin zu einer höheren Produktqualität ebenso ungebrochen wie der Trend hin zu mehr Individualität. Eine flexible Produktion wird etwa gefordert, um Marktschwankungen ausgleichen zu können. Im Zuge der Globalisierung sind Voraussetzungen für weltweit verknüpfte Produktionen geschaffen worden. Der Austausch von Informationen wird daher zunehmend wichtiger. Letztendlich müssen Produktionen ressourceneffizienter werden, da die Rohstoffe langfristig knapper werden. Viele der für die Herausforderungen benötigten Informationen wie etwa zum Zustand der Produkte und der Produktionsprozesse sowie zum Bewerten der Effizienz werden mit Hilfe von Fertigungsmesstechnik ermittelt. Die Anforderungen und Trends in der Fertigungsmesstechnik haben die Autoren der Roadmap „Fertigungsmesstechnik 2020 – Technologie-Roadmap für die Messtechnik in der industriellen Produktion“ der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA) mit schneller, sichererer, genauer und flexibler beschrieben. Das sind Anforderungen, die sich letztendlich auch auf das Kalibrierwesen auswirken. Ullrich Grützner, Beauftragter der Geschäftsführung des Kalibrierdienstleisters Trescal, der sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Kalibrieren von Messmitteln verschiedenster physikalischer Größen beschäftigt, sagt: „Die Ansprüche der heute produzierten Teile bezüglicher ihrer Abmessungen und Genauigkeit sind enorm gestiegen. Zudem ist die Fertigung nicht mehr rein mechanisch. Es kommt immer mehr Optik, Elektronik und IT zum Einsatz.“
Enge Toleranzen
Rasend schnell entwickelt sich die Fertigungsmesstechnik, wie Grützner es formuliert, in der Fertigung werden teilweise schon Verfahren wie Computertomographie, die die zerstörungsfreie Messung von Innen- und Außengeometrien eines Objektes und Materialprüfung, zum Beispiel auf Fehlstellen, ermöglicht, sowie Nanomesstechnik eingesetzt. Bei der Auswahl geeigneter Messmittel für eine spezifische Messaufgabe schwirre in den Köpfen der Messtechniker die als Faustformel noch heute gültige goldene Regel der Messtechnik aus den 20-er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts herum. Sie besagt, dass die Unsicherheit eines Messgerätes ein Zehntel, im äußersten Fall ein Fünftel der Toleranz nicht überschreiten sollte. „Die Toleranzen sind heute jedoch teilweise so klein, dass die Messtechniker zunehmend Probleme haben, geeignete Messverfahren oder Messmittel auszuwählen“, beschreibt Grützner eine der Herausforderungen.
Hinzu kommt, dass Fertigungsmesstechnik zunehmend in die Fertigung fest integriert wird, auch um mit den gewonnenen Daten den Fertigungsprozess zu steuern. Speziell diese Entwicklung wird zukünftig den gesamten Kalibrierprozess wesentlich verändern. „In der Industrie werden derzeit noch 80 bis 90 Prozent der Prüfmittel aus dem Produktionsprozess herausgenommen und unter definierten Bedingungen in einem Feinmessraum oder in externen Laboratorien kalibriert, die im wesentlichen die Forderungen der DIN EN ISO/IEC 17025 oder der VDI/VDE 2627 an Messräume erfüllen“, beschreibt Grützner die derzeitige Vorgehensweise. Mit dem prozessnahen Kalibrieren ändert sich das und damit wachsen auch die Ansprüche an Kalibrierdienstleister und Messtechniker wie etwa:
die Qualifizierung des Personals,
besonderes Equipment,
Flexibilität des Dienstleisters bezüglich Kalibrierzeiten vor Ort.
Trescal bietet seinen Kunden ein umfassendes Portfolio an Kalibrier- und Messdienstleistungen für alle physikalischen Größen an. Dazu gehören elektrische Messgrößen ebenso wie Druck, Temperatur, Kraft, Beschleunigung, Drehmomente oder auch dimensionelle Messgrößen wie kleine Winkel, Neigungen, Form und Lage und viele Weitere. Die dazugehörigen Sensoren und Prüfmittel kommen dabei nicht von einem Hersteller. Das Personal muss also über grundlegende Kenntnisse der physikalischen Effekte und Größen sowie Messmittel unterschiedlicher Hersteller verfügen. Im permanenten Laboratorium gibt es im Regelfall dafür speziell geschultes Personal wie Elektroniker, Längenmesstechniker und so weiter. Beim Kalibrieren in der Produktion ist eine solche Aufteilung der Aufgaben jedoch nicht praktikabel: „Für Kalibrieraufgaben vor Ort muss das Personal unterschiedliche physikalische Größen beherrschen, es muss also hoch qualifiziert und gut ausgebildet sein“, sagt Grützner. In den Fertigungsprozess integrierte Messmittel wie Sensoren, Transmitter, Anzeigeeinheiten, Schreiber, Messgeräte und Messdatenerfassungssysteme sind sehr komplex und stehen häufig miteinander in Wechselwirkung. Dadurch entsteht eine Kalibrierkette, aus der laut Grützner nicht ohne Weiteres ein Glied herausgenommen werden kann – es muss in der Kette kalibriert werden. „Das erfordert wiederum gewisse Kenntnisse, Grundlagen und vor allem für den Kalibrierprozess geeignetes Equipment“, sagt Grützner.
Hinzu kommt das Thema Stillstandzeiten, die niemand gerne akzeptiert. In die Fertigung fest integrierte Messmittel kann man zum Kalibrieren nicht herausnehmen und parallel zur weiter laufenden Produktion kalibrieren. Das bedeutet unter Umständen Stillstand in der Fertigungslinie. Kalibrieraufträge müssten dann ausgeführt werden, wenn die Fertigungslinie steht – nachts, an Wochenenden oder an Feiertagen. „Das kommt heute schon vor. Eine weitere Herausforderung sind die Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Schwingung oder Schmutz, die einen Einfluss auf die Mess-
unsicherheit haben können“, sagt Grützner. Im Labor dagegen herrschen immer die gleichen idealen Bedingungen. Dort sind Klimaanlagen, es ist sauber, es gibt zum Beispiel Raumschleusen oder Abtrennungen, die eine Querkontamination zum Beispiel gegen Schmutz oder Temperatur verhindern. Somit können im Labor die Umgebungsbedingungen, die in Prüfmittelüberwachungsrichtlinien vom VDI/VDE/DGQ 2618 oder 2622 festgeschrieben sind, auch eingehalten werden.
Zum Kalibrieren von Messmitteln werden Normale verwendet, die gesetzlich verbindliche Grundlagen für die entsprechenden physikalischen Größen darstellen. Normale können Maßverkörperungen sein, Messgeräte, Messsysteme oder auch Referenzmaterialien. Wird nun nicht mehr wie bisher in einem Laboratorium unter idealen sauberen Bedingungen und definierten Temperaturen kalibriert, sondern direkt in der Fertigung prozessnah, dann hat das auch einen Einfluss auf die durchzuführende Messung und die verwendeten Normale. Diese müssen dann geeignet sein für den Einsatz unter rauen Umgebungsbedingungen und den Transport per Auto oder Flugzeug; denn sie dürfen sich durch Transport, Lagerung und Gebrauch nicht verändern. Dies bedarf einer besonderen Sorgfalt und Überwachung. Der Kalibrierdienstleister muss unter Umständen eine Vielzahl an Normalen für die verschiedenen physikalischen Größen für die Realisierung eines Kalibrierauftrages mit sich führen. Damit wird das prozessnahe Kalibrieren aufwändiger. „Wir werden da aber nicht drum herum kommen. Schon jetzt haben wir zunehmend Anfragen, ob wir vor Ort kalibrieren können“, sagt Grützner und erläutert: „Wir müssen uns dann die Bedingungen vor Ort anschauen, um die nötigen Entscheidungen zum Messverfahren und der Messstrategie zu treffen. Es kann nämlich sein, dass wir für eine spezielle Messaufgabe entsprechende Hilfs- oder Kalibriervorrichtungen anfertigen müssen.“
Blick in die Zukunft
„Messtechnik wird immer kleiner, genauer und zudem fest in die Fertigung integriert werden. Wir müssen uns also überlegen, wie wir in der Fertigung kalibrieren können“, resümiert Grützner die anstehenden Aufgaben des Kalibrierwesens. So könnte es zukünftig Möglichkeiten geben, dass sich Messgeräte selbst kalibrieren. Über moderne Kommunikationsmittel und das Internet könnte man die Kalibrierung eventuell auch von außerhalb und dennoch innerhalb eines Prozesses durchführen. Vielleicht wird es auch Möglichkeiten geben, dass Messgeräte permanent überwacht werden. Auf jeden Fall ist für Grützner eins sicher: „Es ist spannend, was sich da im Moment
alles tut!“