Dr. Dr. h.c. Attila M. Bilgic Net-Zero als Herausforderungen für die Prozessindustrie

Dr. Dr. h.c. Attila M. Bilgic ist Chief Executive Officer der Krohne Gruppe. Als dessen Chief Technical Officer betreibt er bereits seit 2009 die Implementierung grundlegender Aspekte für die Industrie 4.0. Er ist Vorstandsmitglied der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik und Ehrendoktor der Polytechnischen Universität Timisoara.

Bild: Krohne Gruppe
20.10.2023

Eine grüne Prozessindustrie ohne eine intelligente Sicht auf alle Prozessdaten – das ist kaum möglich. Es ist ein weitverbreiteter Trugschluss, dass sich in Leitsystemen genügend ungenutzte und qualifizierte Daten befinden, mit denen sich KI-Anwendungen sinnvoll speisen lassen. Doch was muss beachtet werden, wenn die digitale Transformation in der Prozessindustrie gemeistert werden soll?

„Net Zero Emissions, Not Zero Intelligence?“ – ein provokantes Wortspiel, da wir ja mehr über den Weg als über das Ziel streiten – und Sie, liebe Leserinnen und Leser, vermuten schon richtig, dass ich persönlich das Wortspiel mit einem Ausrufezeichen enden lassen würde. Das Ziel sollte spätestens seit dem Pariser Abkommen von 2015 klar sein, in dem sich fast 200 Staats- und Regierungschefs darauf verständigt haben, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen und Anstrengungen zu unternehmen, den globalen Temperaturanstieg sogar auf 1,5 °C gedeckelt zu halten, da dies die Risiken und Folgen des Klimawandels signifikant reduzieren würde.

Das hört sich wirklich absolut erstrebenswert an. Wenn wir allerdings einen Blick auf den jährlichen Treibhausgas-Index werfen, wird deutlich, dass die Treibhausgase in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen haben. Kohlenstoffdioxid trägt am meisten zur Klimaerwärmung bei; die Emissionen haben in den letzten Jahrzehnten ebenfalls zugenommen. Es sind gezielte Maßnahmen gefragt, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Das ist eine große Herausforderung für uns alle!

BP skizziert im Energy outlook 2020 drei Szenarien. Im ersten, dem Business-as-usual-Szenario, werden die aktuellen politischen, technologischen und sozialen Verhaltensweisen weiter fortgeschrieben. Trotz CO2-Ausstoß werden die Klimaziele bei Weitem nicht erreicht. Im zweiten, „schnellen“ Szenario, welches das 2-Grad-Ziel gerade noch erreicht, bedarf es einer deutlichen Preissteigerung bei fossilen Brennstoffen und weiterer sektorspezifischer Maßnahmen. Um wirklich auch das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, braucht es zusätzlich gravierender Änderungen im gesellschaftlichen Verhalten. In dem dritten, „Net Zero“ genannten Szenario sind die Netto-CO2-Emissionen tatsächlich bis zum Jahr 2050 auf null zurückzufahren.

Das Pariser Abkommen fordert, mindestens das zweite Szenario umzusetzen und sich dem dritten möglichst gut anzunähern. Was muss hierfür getan werden? BP nennt hier drei Kategorien von Maßnahmen, die hierfür ein zwingender Bestandteil sind: die Kohlendioxid-Speicherung und -verwertung, eine bessere Energieeffizienz sowie einen veränderten, weniger fossilen Energiemix aus erneuerbaren Energiequellen, Kernenergie und Biomasse sowie Wasserstoff, diesen jedoch hauptsächlich als Energieträger.

Diese Punkte stehen auch klar auf der Agenda der Prozessindustrie, was folgende Beispiele verdeutlichen. Beginnen wir mit der chemischen Industrie, die ja im Wesenskern auf Stoffumwandlung beruht. Wir erinnern uns, dass organische Chemie Kohlenstoffchemie ist und Erdölprodukte hier den weitaus größten Anteil an den Ausgangsstoffen ausmachen. Ganz zentral ist hier das auch Rohbenzin genannte Naphta, welches eine durch Destillation gewonnene, eher leichte Erdölfraktion ist. Bei der Verarbeitung von Naphta wird CO2 frei. Das ist hier eine zwingende Folge, des gewünschten Prozesses und somit nicht nur eine Frage der Energiequelle. Doch kennt die chemische Industrie einen Ausweg aus diesem Problem: und das ist die synthetische Erzeugung von Naphta, die dieses CO2 wieder verbraucht. Der Preis hierfür ist allerdings ein zukünftig massiv erhöhter Bedarf der chemischen Industrie an Strom. Um „Net Zero“ zu erreichen, muss dann genau dieser Strom auch grün erzeugt und transportiert werden. Wir müssen uns als Gesellschaft auf diesen Mehrbedarf einstellen, auch durch vereinfachte Genehmigungsverfahren und ein Mehr an Anreizen.

Ebenso überraschend ist vielleicht, dass die Zementindustrie  heutzutage sechs Prozent  zu den  globalen CO2-Emissionen beiträgt. Dieses CO2 entsteht während des Prozesses der Kalzinierung, also der Aufspaltung von Kalziumkarbonat in Kalziumoxid und CO2. Wenn 50 Prozent dieses CO2 mit grüner Energie statt mit fossilen Brennstoffen erzeugt werden würde, könnte der ökologische Fußabdruck entscheidend reduziert werden. Das übrige Kohelnstoffdioxid entsteht als Abfallprodukt des Prozesses und kann hier in hoher Menge punktgenau aufgefangen werden, sodass der Einsatz der Technologien der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung gerade hier besonders sinnvoll und vergleichsweise einfach ist und einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung der CO2-Emissionen leisten kann.

Ein einfaches Beispiel zur Effizienzsteigerung stammt aus dem Bereich der Nahrungsmittelindustrie. Die Herstellung von Trockenmilch ist ein energieintensiver Prozess. Durchschnittlich werden 12 GJ Energie pro Milchtonne benötigt. Dies ist mit erheblichen Kosten verbunden: Bei der Herstellung von 60 t konzentrierter Milch fallen pro Stunde Energiekosten in Höhe von etwa 10.000 Euro an, sodass sich die Energieeinsparung auch wirtschaftlich rechnet. Eine präzisere Prozesssteuerung durch eine geschicktere Wahl der Stellparameter erlaubt es, den bislang benötigten Sicherheitsabstand zu Verklumpungszuständen deutlich zu reduzieren und so Energie zu sparen.

Dieses Beispiel zeigt, dass hier Intelligenz gefragt ist. Das gilt auch für viele andere Bereiche und wir sollten uns nicht nur auf die menschliche beschränken, sondern auch künstliche Intelligenz hinzunehmen. Letztere benötigt allerdings zwingend Daten, und oft ist es in der Prozessindustrie ein Problem, diese unter Beibehaltung der etablierten Sicherheitsstandards auch zu gewinnen. Hier gibt es in der Prozessindustrie noch erheblichen Nachholbedarf. Erfolgversprechende Absätze sind hier die Namur Open Architecture (NOA) und die Advanced Physcal Layer, einem Standard, der die Einführung Ethernet-basierter Kommunikation im Bereich der Prozessindustrie begünstigt. Mit diesem ist es uns möglich, explosionsgeschützte Bereiche zu durchqueren und dabei alle aus dem Internet bekannten, höheren Kommunikationsschichten zu nutzen.

Dabei fließen die sicherheitsrelevanten Messdaten, die der Steuerung und Regelung der Anlage dienen, weiterhin zum Prozessleitsystem. Zusätzlich könnten wir über einen zweiten Kanal eine Fülle von Zusatzinformationen, die im Felde schlummern, an Cloud-Dienste senden – was dazu beitragen kann, die beteiligten Prozesse energieeffizienter und insgesamt besser zu machen. Mit den anskizzierten Konzepten lassen sich die Bedürfnisse nach Security und Safety gut kombinieren – und zugleich kann die Prozessindustrie effizienter ihren Weg in Richtung Net-Zero-Emissions gehen.

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