Wir befinden uns mitten in der Transformation. Wo steht die deutsche Prozessindustrie aktuell in puncto Nachhaltigkeit?
Ehrlich gesagt, stehen viele Unternehmen noch am Anfang ihrer Reise. Es besteht eine allgemeine Unsicherheit darüber, welche Maßnahmen umsetzbar und wirksam sind. Zudem herrscht ein Mangel an gemeinsamem Verständnis und klaren Referenzpunkten. Die Kommunikation über Nachhaltigkeit ist explorativ und viele Unternehmen sind noch in einem Aufklärungsprozess, um die Hebel und Machbarkeit zu verstehen. Nachhaltigkeit ist wichtig – darüber herrscht Einigkeit –, aber der genaue Preispunkt und die konkreten Implikationen sind noch nicht klar definiert. Es ist noch zu früh, um ein abschließendes Urteil über den Stand der deutschen Prozessindustrie abzugeben.
Womit begründen Sie diesen Mangel am gemeinsamen Verständnis?
Meiner Ansicht nach mangelt es zunächst an ausreichenden Daten und Informationen, insbesondere wenn es darum geht, den Carbon Footprint von Produkten präzise zu bestimmen. Komponenten unterstützen den Anwender beim Energiesparen. Allerdings hängt die genaue Menge eingesparter Energie von verschiedenen Faktoren ab. Auf dem Markt gibt es Unternehmen, die hier weiter fortgeschritten sind. Dennoch sind Informationen bezüglich CO2-Lasten auch hier häufig noch auf einzelne Experten beschränkt. Um diese Kenntnislücken zu schließen, ist es wichtig, dass sich Unternehmen mit einer gewissen Unschärfe und guter Annahmen diesen Herausforderungen nähern, Aufklärungsarbeit leisten und Beispiele analysieren. Es handelt sich um einen iterativen Prozess, der im Moment noch von Spezialisten getragen wird. Deshalb müssen grundlegende Arbeiten geleistet werden, um ein gemeinsames Verständnis zu schaffen.
Welche Herausforderungen sehen Sie auf dem Weg zur Klimaneutralität in den nächsten Jahren?
In der Zukunft sehen sich Unternehmen mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere im Hinblick auf Umweltaspekte wie die CO2-Bilanz, den Materialverbrauch und die Effizienz. Das zentrale Problem liegt in der übermäßigen Nutzung von Materialressourcen durch eine wachsende Weltbevölkerung, was zu Umweltschäden und letztendlich zum Klimawandel führt. Die grundlegende Frage lautet: Wie können wir dieses Problem bewältigen? Die Vorstellung, dass Konsumverzicht die alleinige Lösung ist, erscheint mir persönlich als naiv und unrealistisch. Stattdessen sehe ich zwei mögliche Ansätze. Erstens könnte eine Veränderung im Verständnis von Wohlstand erfolgen, indem wir uns auf qualitativ hochwertige, langlebige Produkte konzentrieren und Wohlstand nicht nur auf Konsum reduziert wird. Allerdings stellt die Trägheit von Verhaltensänderungen hierbei eine Herausforderung dar, besonders in wohlhabenden Gesellschaften. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die benötigten Funktionalitäten mit weniger Materialaufwand zu realisieren, was ein Umdenken im Designparadigma erfordert. Die Herausforderung besteht darin, mit weniger Material mehr zu erreichen, da die Verfügbarkeit von Ressourcen abnimmt und die Preise steigen. Daher ist eine Anpassung der Denkweise auf allen Ebenen des Unternehmens notwendig.
In Bezug auf Wohlstand und Konsum hält sich die Vorstellung, dass ein Unternehmen diesen Ansatz sinnvoll unterstützen könnte, indem es seinen Fokus nicht mehr auf Wachstum setzt …
Dies ist absurd. Der Weltmarkt wird unaufhaltsam wachsen, unabhängig von spezifischen Produkten. Eine bewusste Abkopplung von diesem Wachstum bedeutet einen freiwilligen Verzicht auf Marktanteile – unter dem Strich heißt dies, dass weniger Kunden mein Produkt bevorzugen. Hier wäre also die Überlegung angebracht, ob das Produkt überhaupt ausreichend attraktiv ist. Eine alternative Perspektive wäre überproportionales Wachstum, indem mehr Kunden sich für das Produkt entscheiden. Das sollte weiterhin das Ziel sein – Wirtschaft ist Wettbewerb. Letztendlich zählt die Frage: Finden Kunden mein Angebot großartig? Wenn ja, gewinne ich Marktanteile, was positiv für das Unternehmen ist. Wenn nicht, kann es zur Insolvenz führen. Daher halte ich die Diskussion für abwegig. Ein Unternehmen hat nicht die Aufgabe, das globale Konsumproblem zu lösen. Die Verantwortung besteht darin, bessere Produkte anzubieten und hoffentlich zu wachsen. Und „bessere Produkte“ heute gleichzusetzen ist mit „nachhaltiger“.
Worauf kommt es Ihrer Meinung nach an, um Nachhaltigkeit und Klimaneutralität erfolgreich umzusetzen?
Um Nachhaltigkeit und Klimaneutralität erfolgreich umzusetzen, sind für mich drei klare Prioritäten von entscheidender Bedeutung. Erstens müssen wir unsere Kunden aktiv dabei unterstützen, ihre Prozesse nachhaltiger zu gestalten und die Material- und Energieeffizienz zu steigern. Zweitens ist es von höchster Wichtigkeit sicherzustellen, dass unsere eigenen Produkte nachhaltig produziert werden. Drittens steht die Gewährleistung eines durchgängig nachhaltigen Betriebs im Fokus. Die Reihenfolge dieser Prioritäten ergibt sich aus meiner Überlegung, welcher Ansatz den größten Einfluss hat. Die Unterstützung unserer Kunden bei der Optimierung ihrer Prozesse hat einen erheblichen Hebel, da die Reduzierung ihres Material- und Energieverbrauchs einen weitreichenderen Effekt haben kann als interne Produktionsverbesserungen.
Im Kontext der Nachhaltigkeit wird oft die Notwendigkeit von Flexibilität betont. Wie können flexible Strukturen in einem Unternehmen geschaffen werden, um schneller auf Marktveränderungen und Kundenbedürfnisse zu reagieren?
In großen Unternehmen stellt die Komplexität eine Herausforderung dar. In einer organisch gewachsenen Organisation entstehen vielfältige Prozesse und Regeln, die strikt befolgt werden müssen. Der Überblick über Produkte und Mitarbeiter wird erschwert. Die grundlegende Strategie sollte darin bestehen, Entscheidungen dort zu treffen, wo urteilsfähige Personen sitzen. Probleme sollten von denjenigen in unmittelbarer Nähe gelöst werden, die das Problem aufgrund ihrer Erfahrung und Ausbildung verstehen können. Die Herausforderung besteht darin, Entscheidungen zu dezentralisieren, Vertrauen aufzubauen und Mitarbeiter zur Übernahme von Verantwortung zu befähigen. Die Transformation bedeutet, dezentraler zu agieren, gleichzeitig aber auf standardisierte Prozesse und Tools angewiesen zu sein. Der Spagat zwischen Dezentralität und Standardisierung ist besonders relevant im Kontext der Nachhaltigkeit. Es gilt, klug zu standardisieren, ohne alles neu zu erfinden, und gleichzeitig die intrinsische Motivation der Mitarbeiter zur Förderung nachhaltiger Praktiken zu unterstützen.
Wie definieren Sie bei Bürkert den Begriff Nachhaltigkeit?
Wir verstehen Nachhaltigkeit in einem ganzheitlichen Kontext, der über Umweltaspekte hinausgeht und sich auch auf soziale und wirtschaftliche Aspekte bezieht. Nachhaltigkeit betrachten wir nicht als eine komplizierte Angelegenheit, sondern als einen aktiven Prozess, bei dem wir die Förderung umweltfreundlicher Technologien in den Fokus stellen, selbst wenn Produkte noch nicht den idealen ökologischen Fußabdruck aufweisen. Unsere Bürkert-Werte – sowie unsere Kernziele der Technologie- und Qualitätsführerschaft und Unabhängigkeit – dienen als Leitprinzipien. Um unsere Nachhaltigkeitsziele zu konkretisieren, haben wir neun Aktionsfelder identifiziert, darunter Umwelt, Standorte und Ausbildung. Diese haben wir in einer detaillierten Matrix bewertet, um ihren gesellschaftlichen und unternehmensinternen Einfluss zu bestimmen. Diese Bewertung hilft uns, Aktivitäten gezielt zu priorisieren. Wichtig ist zu betonen, dass unsere Definition von Nachhaltigkeit breit angelegt ist und nicht auf oberflächliche Ansätze wie Photovoltaik beschränkt ist.
Wie leben Sie im Unternehmen Nachhaltigkeit?
Bürkert beschäftigt sich derzeit intensiv mit dem Thema Nachhaltigkeit, ist jedoch noch nicht deutlich über dem Industriedurchschnitt positioniert. Diese Einschätzung ist von mir bewusst kritisch formuliert, trotz möglicher positiver Einschätzungen seitens der Mitarbeitenden. Aber wir werden in den kommenden ein bis zwei Jahren einen deutlich Schub nach vorne machen. Nachhaltigkeit ist für uns von großem Wert und bildet die treibende Kraft im Unternehmen. Diese Einstellung spiegelt sich auch in der großzügigen Bereitstellung von Ressourcen wider, ohne dass bisherige Aktivitäten aufgrund von Ressourcenmangel gestoppt wurden. Ein Beispiel für unser Engagement ist die Investition von 70 Millionen Euro in den Bau neuer Gebäude am Standort Deutschland. Dabei wurden bereits alle sinnvollen Maßnahmen für Nachhaltigkeit, wie Photovoltaik, Wärmepumpen oder weitgehende Nutzung von Holz berücksichtigt. Der Fokus des Unternehmens verschiebt sich derzeit von Scope 1 und 2 auf Scope 3, insbesondere auf das Produkt. Es wird intensiv daran gearbeitet, den gesamten Lebenszyklus und den Carbon Footprint zu betrachten.
Mit dem Projekt „203ZER0“ verfolgt Bürkert den Plan, bis 2030 klimaneutral zu werden. Welche Bausteine verfolgen Sie hierfür inhaltlich?
Beim Start des „203ZER0“-Projekts war die genaue Umsetzungsstrategie noch nicht festgelegt. Ursprünglich als impulsiver Anspruch formuliert, bis 2030 klimaneutral zu werden, haben wir uns später konkrete Ziele gesetzt, darunter die Reduzierung des Carbon Footprints des Portfolios um zehn Prozent. Unsere großen Produktionsstandorte sollen bis 2028 klimaneutral sein. Eine interne Messlatte wurde festgelegt, die nach und nach verfeinert wird. Wir können heute schon sagen, dass wir am Standort Deutschland in Scope 1 und 2 bereits CO2-neutral sind, dabei berücksichtigen wir eine Kompensation in einem zertifizierten Projekt. Aber wir wollen weitergehen und die Frage beantworten, wieviel Kompensation ist wirklich nötig?
Wieviel Prozent des „203ZER0“-Projekts haben Sie bereits erreicht?
Die Bewertung des Fortschritts für das „203ZER0“-Projekt gestaltet sich als komplex. Auf einer Skala von 0 bis 100 schätze ich unseren Fortschritt auf etwa 70 Prozent ein, unter Berücksichtigung der Erfolge in Deutschland und China. Spezifische Aspekte wie Scope 1, 2 und der Standortfaktor liegen bereits zwischen 80 und 90 Prozent. Dennoch behaupte ich nicht, dass wir das Ziel bereits erreicht haben. Im Oktober haben wir einen nachhaltigen Standort in China eröffnet, der Maßnahmen wie Geothermie und Photovoltaik sowie Schulungen nach deutschen Standards beinhaltet. Dies verdeutlicht unsere Bemühungen, über den Umweltaspekt hinauszuwirken. Trotz positiver Entwicklungen sind wir, vor allem mit Blick auf die Herausforderungen in Scope 3, noch nicht einmal halb so weit, wie wir sein sollten. Der größte Teil des Weges liegt noch vor uns, und es könnte anspruchsvoller werden.
Welche Vorgaben und Änderungen wünscht sich Bürkert vom Gesetzgeber, um mehr Nachhaltigkeit zu fördern?
Die Politik spielt eine entscheidende Rolle bei der Gesetzgebung und Förderung von Nachhaltigkeit, insbesondere in Bezug auf Themen wie Elektromobilität oder regenerative Energien. Ohne politische Lenkung wären wir nicht so weit fortgeschritten. Allerdings führt der damit verbundene Bürokratieaufwand zu signifikanten Mehraufwänden für alle Unternehmen. Das Lieferkettensorgfaltsgesetz und die EU-Aufforstungsverordnung sind Beispiele für unnötigen Aufwand und Unsicherheiten. Weniger Gesetze, eine konsistente Politik und klare Handlungsrahmen wären effektiver. Das ständig ändernde Heizungsgesetz zeigt die Notwendigkeit von Konsistenz und Planbarkeit. Um nachhaltige Entwicklungen erfolgreich voranzutreiben, benötigen wir Vertrauen in die Industrie, Konsistenz und klare Rahmenbedingungen, anstatt ständiger Gesetzesänderungen.
Inwiefern haben Familienunternehmen spezifische Vorteile in Bezug auf langfristiges Denken, Unabhängigkeit und Wertorientierung, und wie können diese Merkmale für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden?
Familienunternehmen, besonders unter geeigneter Führung, zeichnen sich durch klare Vorteile in Bezug auf nachhaltige Entwicklung aus. Ihr Fokus auf langfristiges Denken, Unabhängigkeit und Wertorientierung macht sie zu Vorreitern. Bürkert ist ein solches Unternehmen, das auf Werterhaltung und Nachhaltigkeit setzt. Den Eigentümern von Bürkert ist es ein zentrales Anliegen und eine Triebfeder nachhaltig zu wirtschaften. Persönlich halte ich interne Leitlinien und Werte für entscheidender als gesetzliche Vorgaben. Unternehmen, die auf Werthaltung setzen, agieren als Treiber für Nachhaltigkeit. Im Vergleich zu öffentlichen Unternehmen können wir uns besser von kurzfristigem Gewinnzwang lösen und haben die Chance, uns in Zeiten steigenden Bewusstseins für nachhaltiges Handeln zu differenzieren. Durch ihre historische Erfahrung im globalen Handel haben Familienunternehmen eine bessere Vorbereitung auf Herausforderungen wie Globalisierung und Technologiewandel. Die Schlüsselrolle des Eigentümers unterstützt die Geschäftsführung und schafft eine Basis für erfolgreiche Nachhaltigkeitsbemühungen. Zusammenfassend bietet die Wertorientierung von Familienunternehmen eine einzigartige Chance, sich von anderen Unternehmen zu differenzieren und eine führende Rolle im Bereich der nachhaltigen Entwicklung einzunehmen.
Wie unterstützt Bürkert den Anwender nachhaltiger zu produzieren und inwiefern unterscheiden Sie sich hier von Ihren Wettbewerbern?
Wir setzen stark auf Innovationen, um unseren Kunden dabei zu helfen, nachhaltiger zu agieren – insbesondere durch wegweisende Produkte wie die Kick-and-Drop- oder WhisperValve-Ventile, die einen signifikanten Beitrag zur Energieeinsparung leisten. Für Letztere wurden wir beispielsweise erst im vergangenen Jahr von dem Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg beim Umwelttechnikpreis in der Kategorie Energieeffizienz ausgezeichnet. Im Vergleich zu unseren Wettbewerbern sind wir dabei klar einen Schritt voraus – aktuell gibt es keine vergleichbaren Produkte auf dem Markt. Unser Fokus liegt nicht nur auf dem Verkauf von Produkten, sondern auch auf der Bereitstellung unseres tiefgreifenden Prozess- und Domänenwissens. Wir möchten unsere Kunden durch unsere Expertise im Bereich fluidischer Regelkreise und effizienter Prozessführung unterstützen. Unser Ziel ist es, nicht nur als Komponentenhersteller, sondern als strategischer Partner aufzutreten, der durch innovative Lösungen und Beratungsdienstleistungen eine Vorreiterrolle in der nachhaltigen Produktionsentwicklung einnimmt. Dabei möchten wir unser Wissen im Bereich fluidischer Regelkreise und effiziente Prozessführung weiterverbreiten und Anwender intensiv bei der Implementierung nachhaltiger Prozesse begleiten.