Generative KI ist in aller Munde. Was unterscheidet diese aus Ihrer industriellen Sicht von bisherigen KI-Formen?
Generative KI zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie Inhalte wie Steuerungscode, Bilder oder Dokumentationen eigenständig generieren kann. Während „normale“ KI-Systeme vor allem auf Datenanalysen und Mustererkennung spezialisiert waren, schafft Generative KI aktiv Neues. Im industriellen Kontext bedeutet das zum Beispiel, dass mit Generativer KI nicht nur Steuerungscode erzeugt werden, sondern auch spezifische Produkte designt oder Simulationen unterstützt werden können. Auch ganz praktische Dinge wie Informationen von Maschinen in natürlicher Sprache abfragen, statt sie umständlich in Handbüchern zu suchen, ist mit Generativer KI möglich. Eine Schlüsseltechnologie dahinter sind die sogenannten Large Language Models, bei denen Microsoft mit Azure OpenAI Service zu den führenden Anbietern gehört. Siemens hat diese Technologie bereits erfolgreich auf Messen demonstriert, wie der erwähnten Generierung von Steuerungscode oder der KI-gestützten Entwicklung von Steckverbindern mit den Partnern Harting und Microsoft. Allerdings müssen die generierten Ergebnisse in der Industrie weiterhin geprüft und auf ihre Praxistauglichkeit hin angepasst werden, weshalb wir kontinuierlich an der Verfeinerung und Anpassung der Modelle arbeiten.
Sehen Sie das größte Potenzial für Generative KI gleich beim Engineering?
Das Engineering ist sicherlich einer der Bereiche, in denen das Potenzial von Generativer KI besonders groß ist. Momentan denkt man aber oft noch zu sehr in festen Strukturen, wie zum Beispiel beim Generieren von Steuerungscode wie SCL oder beim Erstellen von HMI-Screens. Aber wir müssen viel weiterdenken: Wie schafft man es, verschiedene Disziplinen wie die E-Konstruktion, die Automatisierung und Generative KI zusammenzubringen? Und das am besten über Unternehmensgrenzen hinweg. Ein Ansatz, den wir hier verfolgen, ist das sogenannte „Agenten-Konzept“. Diese Agenten können miteinander kommunizieren und Daten austauschen. Wenn dann ein Ingenieur einen Sensor an der Maschine hinzufügt, könnte der Siemens-Agent automatisch eine Nachricht an den ECAD-Agenten senden, der dann das elektrische Design anpasst. So entsteht ein geschlossener Kreislauf, bei dem die verschiedenen Tools miteinander verbunden sind. Das würde bedeuten, dass wir endlich einen Digital Twin haben, der stets auf dem neuesten Stand ist. Heute ist dieser Feedback-Loop oft noch sehr manuell und fehleranfällig, aber durch den Einsatz von Generativer KI könnte das automatisiert werden.
Würden Sie sagen, dass Generative KI die Art und Weise, wie Unternehmen Produkte entwickeln, fertigen und warten, grundlegend verändern wird?
Absolut. Wenn wir es schaffen, dass Agenten auf verschiedenen Seiten – wie Automation Engineering Software und ECAD-Software – in Echtzeit miteinander kommunizieren und Änderungen automatisch umgesetzt werden, dann reden wir tatsächlich von einer völlig neuen Art der Produktentwicklung. Vor allem im Hinblick auf die Durchgängigkeit über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts hinweg – vom ersten Design bis hin zum Service – könnte Generative KI einen enormen Einfluss haben. Stellen Sie sich vor, dass ein Produktdesign, das mit Generativer KI erstellt wurde, automatisch in die Fertigung überführt wird. Wenn während der Produktion Änderungen vorgenommen werden, werden diese sofort im digitalen Zwilling aktualisiert. Und wenn das Produkt später gewartet wird, fließen auch diese Daten zurück in das System. Dies würde eine bidirektionale Kommunikation über alle Phasen des Produktlebenszyklus hinweg ermöglichen und somit die Effizienz und Flexibilität erheblich steigern. Wir erleben einen massiven Perspektivenwechsel. Jeder Entwickler bei uns arbeitet mittlerweile mit einem Copilot, einem GenAI-basierten Assistenten. Dieser hilft dabei, produktiver zu sein, indem er Routineaufgaben übernimmt. Insofern wird sich auch die Rolle der Entwickler zunehmend verändern.
Wenn Industriebetriebe diese Entwicklung ignorieren – was passiert dann? Sind sie in ein paar Jahren nicht mehr wettbewerbsfähig?
Es wäre definitiv ein großer Fehler, sich nicht mit KI oder Generativer KI auseinanderzusetzen. Ob ein Unternehmen dadurch tatsächlich komplett seine Wettbewerbsfähigkeit verliert, hängt natürlich von der jeweiligen Branche und den spezifischen Anforderungen ab. Aber generell müssen Industriebetriebe in Produktivität, Flexibilität und schnelle Anpassungsfähigkeit investieren. Und genau in diesen Bereichen wird Generative KI einen erheblichen Einfluss haben. Es gibt noch viel zu entdecken, aber ich vergleiche Generative KI gerne mit der Erfindung des Internets. Damals hat das Internet die Welt und die Geschäftsmodelle grundlegend verändert, und ich denke, Generative KI hat das Potenzial, eine ähnlich disruptive Innovation zu werden.
Eine der zentralen Entwicklungen bei Siemens ist „Industrial Operations X“. Wird hier die Grundlage für eine einfache Nutzung von KI geschaffen?
„Industrial Operations X“ ist unser wachsendes Portfolio, um OT und IT zusammenzubringen und zu harmonisieren. Unser Ziel ist es, die Flexibilität und Interoperabilität in der Produktion zu erhöhen, ohne auf die Zuverlässigkeit und Effizienz bestehender Automatisierungssysteme zu verzichten. Daher bauen wir auf bewährte Technologien wie Siemens TIA und entwickeln sie weiter. Dabei spielen IT-Technologien und Künstliche Intelligenz eine zentrale Rolle, weil sie uns die Flexibilität geben, die moderne datengetriebene Fertigungsumgebungen ermöglichen. Ein entscheidender Aspekt von Industrial Operations X ist dabei die Fähigkeit, Produktionsprozesse kontinuierlich anzupassen. In der Vergangenheit waren Produktionsanlagen oft starr und konnten nur durch aufwendige manuelle Eingriffe verändert werden. Mit Industrial Operations X können wir hingegen kurzfristig auf Veränderungen reagieren, sei es durch neue Updates oder durch die Integration neuer Technologien wie Generative KI. Besonders interessant wird es, wenn wir das Konzept der Agenten in Industrial Operations X integrieren. Diese Agenten könnten beispielsweise vor dem Rollout einer neuen Funktion automatisch eine Simulation durchführen und die Ergebnisse zurück an das System melden. Auf diese Weise können wir sicherstellen, dass die Produktion nahtlos und effizient weiterläuft, während gleichzeitig neue Technologien integriert werden.
Kann Generative KI auch helfen, Maschinen und Robotern neue Fähigkeiten zu vermitteln, sodass sie flexibler und autonomer agieren können?
Das ist einer der spannendsten Aspekte im Produktionsumfeld. Wir arbeiten bereits daran, KI nicht nur zur Codegenerierung, sondern auch in der Laufzeitumgebung von Maschinen zu integrieren. Das bedeutet, dass die KI in Echtzeit lernt und sich anpasst. Zum Beispiel könnten Maschinen mithilfe von Generativer KI von erfahrenen Bedienern lernen, wie sie am besten eingestellt werden. Diese „Golden Operators“ haben oft jahrelange Erfahrung und wissen genau, wie man die Produktion optimiert. Die KI kann diese Expertise übernehmen und automatisch auf neue Maschinen oder Prozesse anwenden. Wir entwickeln derzeit Use Cases in der Batterieindustrie, wo wir genau diese Technologie testen. Ein typisches Beispiel: Wenn eine Coater-Maschine nicht optimal eingestellt ist, kann es zu viel Ausschuss kommen. Ein erfahrener Bediener produziert vielleicht nur 100 m Ausschuss, während ein unerfahrener Bediener 400 m Ausschuss erzeugen könnte. Generative KI hilft hier, indem sie vom erfahrenen Bedienern lernt und diese Kenntnisse automatisch auf alle Maschinen überträgt. Auch weniger erfahrene Maschinenbediener profitieren dann von dieser Expertise. Wenn das erfolgreich ist, planen wir, diese Technologie auf andere Industrien und Produktionsprozesse zu übertragen.
Ihre Vision ist also, Generative KI-basierte Industrial Copiloten entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu integrieren?
Richtig – vom Design, Planning, Engineering über Operations bis hin zum Service. Auf der einen Seite unterstützen diese Copiloten den Bediener in der Produktion, indem sie Vorschläge machen, wie die Maschine optimal eingestellt werden kann. Auf der anderen Seite helfen sie dabei, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit zur Verfügung zu stellen. Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass der Copilot vorschlägt, eine bestimmte Losgröße zu produzieren, weil es gerade Engpässe in der Lieferkette gibt. Oder er könnte den Maschinenbediener darauf hinweisen, dass eine bestimmte Einstellung optimiert werden sollte, um die Produktionsqualität zu verbessern. Langfristig könnten diese Copiloten sogar in der Lage sein, Maschinen vollständig autonom zu steuern.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der praktischen Umsetzung solcher Copiloten?
Die größte Herausforderung besteht darin, die richtigen Daten zu sammeln und zu verknüpfen, damit die KI wirklich sinnvolle Ergebnisse liefern kann. Es geht also nicht nur darum, ein Large Language Model zu trainieren, sondern auch darum, Echtzeitdaten in den Prozess zu integrieren. Eine weitere Herausforderung ist der Kostenaspekt: Die Nutzung eines Large Language Models kann sehr teuer werden, vor allem, wenn es in Echtzeit auf komplexe Abfragen reagieren muss. Daher ist es wichtig, dass wir die Nutzung der KI optimieren und sicherstellen, dass sie effizient arbeitet. Denken Sie beispielsweise auch daran, dass nicht jedes Large Language Model in jedem Land aus regulatorischen Gründen und Datenschutzvorgaben verwendet werden kann. Wir bei Siemens evaluieren also verschiedene Large Language Models und arbeiten auch daran, lokale Instanzen, sogenannten Small Language Models, auf Industrie-PCs on premise künftig betreiben zu können.
Sehen Sie in naher Zukunft eine Entwicklung, die diese Technologien auch für kleine Unternehmen erschwinglich macht?
Ja, definitiv. Die Technologie entwickelt sich rasant, und ich bin überzeugt, dass wir in den nächsten Jahren deutlich kostengünstigere Lösungen sehen werden. Die Hardware-Kosten für KI-Beschleuniger sinken bereits, und auch die KI-Modelle selbst werden kleiner und spezialisierter. Dadurch wird Generative KI in naher Zukunft auch für kleinere Unternehmen erschwinglich sein, davon bin ich absolut überzeugt. Wir wollen bei Siemens sicherstellen, dass unsere Lösungen jeder Unternehmensgröße zugänglich sind. Das bedeutet, KI-Lösungen müssen einfach zu bedienen und gleichzeitig erschwinglich sein.
Was spricht somit für Siemens, warum sollten sich Maschinenbauer und Anlagenbetreiber an Sie wenden, um KI zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen?
Siemens bringt zwei wesentliche Stärken mit: unser tiefes Verständnis der Automatisierungstechnik und unsere umfangreiche Erfahrung im Bereich der KI. Wir arbeiten seit Jahren an der Entwicklung von KI-Lösungen, die speziell auf die Bedürfnisse der Industrie zugeschnitten sind. Zudem haben wir die Möglichkeit, mit großen Technologieunternehmen wie Microsoft oder Nvidia zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass unsere Lösungen den Anforderungen der Industrie gerecht werden. Diese Kombination aus technologischem Know-how und industrieller Expertise macht uns zum idealen Partner, wenn es darum geht, KI erfolgreich in Produktionsprozessen einzusetzen.
Welche persönlichen Ziele haben Sie sich für die kommenden Jahre bei Siemens gesteckt?
Mein Ziel ist es, die Automatisierung in die Zukunft zu führen. Das bedeutet, dass wir nicht nur moderne IT-Technologien und KI einbeziehen müssen, sondern auch ein starkes Ökosystem aufbauen. Automatisierung war früher oft als Jobkiller verschrien, aber heute ist klar: Ohne Automatisierung und Digitalisierung werden wir es nicht schaffen, in der Industrie nachhaltiger zu wirtschaften. Wir müssen die Automatisierung und Digitalisierung noch stärker in die Breite bringen und sie für alle Unternehmen nutzbar machen – unabhängig von deren Größe.