Deutschland meint es ernst mit dem grünen Wasserstoff. Das im Juli 2023 veröffentlichte Update der nationalen Wasserstoffstrategie und die geplante 3,7-Milliarden-Förderung aus dem Klima- und Transformationsfonds der Bundesregierung verleihen der deutschen Wasserstoffwirtschaft immer mehr öffentliche Relevanz: Grüne Wasserstofftechnologie ist ein wichtiger Baustein bei der Erfüllung der Klimaziele 2030. Die große Aufbruchstimmung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass grüner Wasserstoff auch in nächster Zukunft ein rares Gut bleiben wird.
Laut nationaler Wasserstoffstrategie wird sich der Bedarf bis 2030 auf 90 bis 110 TWh summieren. Er übersteigt damit die anvisierte, maximal mögliche inländische Eigenproduktion von rund 14 TWh um ein Vielfaches, weshalb in Zukunft viel grüner Wasserstoff importiert werden muss. Auch die Installation und Inbetriebnahme von energieeffizienten Elektrolyseuren im 100-MW-Bereich hinkt hinterher, ebenso die finale Freigabe von Fördermitteln aus europäischen Großprojekten wie IPCEI. Ohne diese Mittel können die Projektpartner nicht mit der Anlagenerstellung beginnen – die Investitionssummen und -risiken sind viel zu hoch.
Alternativloser Einsatz
Das zeigt, dass die vielfach zitierte Dekarbonisierung der deutschen Industrie zwar ein hehres Ziel, es aber bis dahin noch ein weiter Weg ist. Heute sind jährlich 93 Millionen t grauer Wasserstoff in Industrieprozesse eingebunden. Allein diesen durch grünen Wasserstoff zu ersetzen, übersteigt alle Kapazitäten an Grünstrom in Deutschland. Hier ist eine sinnvolle Priorisierung nötig.
An erster Stelle stehen die vielen Stahlunternehmen als größte CO2-Emittenten in der gesamten deutschen Industrie. Sie stoßen jährlich mehrere Millionen t CO2 aus. Langfristiges Ziel ist die klimaneutrale Stahlproduktion in Deutschland. Im Rahmen des „Hydrogen for Bremens industrial transformation“-Projekts (kurz: HyBit) errichtet die APEX Group deshalb für das ArcelorMittal-Stahlwerk in Bremen eine 10-MW-Elektrolyseanlage für grünen Wasserstoff.
2024 soll die Anlage in Betrieb gehen. Mit dem Einsatz grünen Wasserstoffs in der Stahlindustrie sind auch neue Prozesstechnologien verbunden: Die wasserstoffbasierte Direktreduktion macht künftig aus Eisenerz Stahl und wird die klassischen Koks-Hochöfen ablösen. All das erfordert Investitionen im einstelligen Milliardenbereich – je Stahlkonzern. Weil die Stahlindustrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland so wichtig ist, erhält sie extrem hohe Subventionen, ebenfalls im Milliardenbereich, und das sowohl auf CapEx- als auch auf OpEx-Basis.
Nicht immer die erste Wahl
Das Beispiel der Stahlbranche zeigt, wie grüner Wasserstoff effizient zur Erreichung der Klimaziele eingesetzt werden kann. Der große Hype rund um grünen Wasserstoff lenkt aber davon ab, dass sich der Wasserstoffbetrieb nicht pauschal für alle Branchen und Anwendungen eignet. Hier ist immer wichtig, zunächst eine ergebnisorientierte Analyse des Anwendungsfalles vorzunehmen: Wie viel Energie wird in welcher Form wo benötigt und was ist aus Effizienzgründen sinnvoll?
Alternativen beachten
Es darf nicht um einen rein politisch oder wirtschaftlich motivierten Verdrängungswettbewerb der erneuerbaren Energien beziehungsweise Energieträger untereinander gehen, sondern immer um eine projektbezogene und ganzheitliche
Betrachtung: Unternehmen, die etwa Prozesswärme für ihre Produktion benötigen, sind vielleicht mit einer Solarthermieanlage auf dem Dach besser beraten, sowohl in Bezug auf Investitionskosten als auch mit Blick auf die Bedarfsdeckung.
Für die Quartiersversorgung mit Wärme und Strom eignet sich grüner Wasserstoff am ehesten, wenn ohnehin eine Wasserstoffproduktion – zum Beispiel für eine Prozessgasanwendung – in der Nähe ist. Deren Überschuss kann in ein Blockheizkraftwerk fließen, das als Sekundärversorgung einspringt, wenn die Primärversorgung ausfällt. Und während im Stadtbetrieb häufig mit Grünstrom betriebene E-Busse die erste Wahl sind, eignen sich im regionalen ÖPNV aufgrund der höheren Reichweite eher Wasserstoff-Bahnen und -Busse.
Genau richtig
Von grünen Wasserstofftechnologien profitieren können vor allem energieintensive Großindustrien, die aktuell mit klimaschädlichen Prozessgasen arbeiten: Das sind neben Stahl vor allem Chemie und Pharma sowie Zement. Hinzu kommt der Schwerlasttransport per Schiff, Flugzeug, Schienenverkehr und Lkw. All diese Prozesse lassen sich nur schwer oder gar nicht elektrifizieren – deshalb ist Grünstrom keine geeignete Alternative.
Für viele andere Einsatzbereiche wie etwa die Wärme- und Stromerzeugung für die Wohnungswirtschaft ist grüner Wasserstoff nicht effizient genug oder erfordert zudem sehr hohe Investments, neue Anlagen und sehr hohe Subventionen – die viele Unternehmen aufgrund ihres volkswirtschaftlichen Stellenwerts vermutlich nicht bekommen werden. Hinzu kommen die aktuell noch hohen Preise für grünen Wasserstoff. Sie lassen sich in nur wenigen Branchen über eine Erhöhung der Abgabepreise kompensieren, weil die nachgelagerten Wertschöpfungsstufen dafür viel zu preissensibel sind.
Vertikale Partnerschaften
Dort, wo Wasserstoffanwendungen unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten sinnvoll sind, sollten sie im Rahmen einer Sektorenkopplung mit vor- und nachgelagerten Industrien verbunden werden. Idealerweise liegen solche Komplementärcluster räumlich nah an einem Standort – oder sie sind durch eine Pipelineinfrastruktur verbunden, zumindest, wenn es um den Austausch von Gasen und Wärme geht. Ein Beispiel dafür: Weil bei der künftig grünen Produktion von Zement grünes CO2 als Nebenprodukt anfällt, werden sich Zementwerke im Nebengeschäft – in Kombination mit grünem Wasserstoff – als Rohstofflieferant für die grüne Ammoniakproduktion und andere Derivate etablieren können.
Auch strategische Lieferpartnerschaften sind sinnvoll: So beliefert das Unternehmen Salzgitter die BMW Group künftig mit CO2-neutral produziertem Stahl für die Automobilherstellung – ein wichtiger Schritt für BMW, um die eigenen Klimaziele zu erreichen.
Knappes Gut
Grüner Wasserstoff ist einer der Schlüssel für die grüne Energiewende. Da er aber mittelfristig nicht im Übermaß verfügbar sein wird, ist es wichtig, ihn dort einzusetzen, wo er aktuell den qualitativ besten Outcome hat. Es geht jetzt also darum, Know-how zu vermitteln und die Wirtschaft dahingehend richtig zu beraten, dass als Erstes der graue Wasserstoff in der Industrie substituiert wird. Gänzlich neue grüne Wasserstoffprojekte sollten selektiv da starten, wo sie unter Kosten-Nutzen- und Infrastrukturgesichtspunkten wirklich sinnvoll sind. Dazu bedarf es mehr tiefen Wissens bei privatwirtschaftlichen Unternehmen, Investoren, Kreditinstituten und der öffentlichen Hand. Denn: Gezielt eingesetzt und gut beraten, ergibt grüner Wasserstoff viel Sinn.