Oberflächlich betrachtet scheint die moderne Luftfahrzeugbranche wenig mit der Automobilindustrie gemein zu haben. In der Automobilindustrie werden mittlerweile jährlich über 80 Millionen Fahrzeuge produziert und abgesetzt und rund zwei Billionen Euro Umsatz erwirtschaftet, während die Luftfahrtindustrie mit etwa 2000 Flugzeugen 200 Milliarden Euro per anno umsetzen kann. Der durchschnittliche Stückpreis liegt bei einem Passagierflugzeug bei rund 100 Millionen Euro – im Gegensatz zu durchschnittlich 27.000 Euro für einen Pkw. 1,1 Millionen Beschäftigten der Luftfahrtindustrie stehen weltweit etwa acht Millionen Automobil-Mitarbeiter gegenüber.
Software als Herausforderung der Zukunft
Gemeinsam ist beiden Branchen, dass sie äußerst komplexe Produkte mit einem enorm hohen Elektronikanteil sowie einem Höchstmaß an Anforderungen bezüglich funktionaler Sicherheit bereitstellen. Elektrik und Elektronik sind die wichtigsten Treiber für bis zu 70 % Prozent aller Innovationen. Eingebettete Systeme sind ein wesentliches Differenzierungsmerkmal. Hierzu bedarf es entsprechend komplexer Entwicklungs- und Produktionsprozesse sowie hochgradig ausgeprägtem interdisziplinären Wissen.
Weitere Gemeinsamkeiten ergeben sich aufgrund ähnlicher Herausforderungen, vor denen beide Branchen stehen: Die lange Jahre bestehende Dominanz beider Märkte durch die USA und Europa wird in zunehmenden Maß durch Konkurrenz aus Asien, insbesondere durch China, aufgebrochen. Gleichzeitig steigt der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Druck auf beide Branchen aufgrund endlicher fossiler Ressourcen in Verbindung mit Umweltschutzaspekten. Sie müssen sich mit den Themen Energieeffizienz, alternative Antriebe und Emissionsreduktion intensiver denn je auseinandersetzen. In Verbindung mit individuelleren Kundenwünschen steigen Wettbewerbs- und Innovationsdruck. Trotz kostenintensiver Forschung und Entwicklung müssen die Produkte aber bezahlbar bleiben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich beide Branchen einem Zielkonflikt befinden, den es mit geeigneten Maßnahmen aufzulösen gilt.
Synergie- und Transferpotenziale
Der Ansatz, gezielt Wissen aus einem Bereich in den anderen zu übertragen, erscheint grundsätzlich sinnvoll. In beiden Anwendungsfällen geht es um Transportmittel mit teilweise komplexen Funktionalitäten. Die Funktionen werden auf der Basis von Elektronik und Software als eingebettete Systeme realisiert und müssen vielfach hohen Echtzeit-Anforderungen genügen. Die Einbindung in eine komplexe Verkehrssteuerung ist ebenfalls vergleichbar. Aus der Ingenieurssicht weisen zugleich auch die Domänenstrukturen aus Karosserie und Cockpit, Antrieb und Plattform-Kontrolle große Ähnlichkeiten auf.
Zweifellos sind die konkreten funktionalen Anforderungen – und damit auch die gefundenen Lösungen – in den meisten Fällen grundverschieden. Es gibt aber eine große Schnittmenge insbesondere bei den Prozessen und bei der Übertragbarkeit von grundlegenden Lösungen im Bereich der Technologien. Der gemeinsame Nenner liegt also zuallererst im Bereich der Vorgehensweisen bei der Lösungsfindung, mit anderen Worten, in der Entwicklung. Beispiele hierfür sind:
Funktionale Sicherheit: Die Vorgehensweise, wie aus gegebenen Anforderungen ein funktionssicheres Produkt entsteht, ist ihrem Wesen nach unabhängig von der Domäne Luftfahrt oder Automotive.
Anforderungsmanagement: In beiden Domänen sind die gleichen Werkzeuge Standard. Auf der prozessualen Ebene macht die Zieldomäne keinen Unterschied.
Systemarchitektur: Die prinzipiellen Ansätze hierfür sind ebenfalls übertragbar, wenn auch nur auf der abstrakten Modellebene.
Prozesse
Betrachten wir zunächst die Prozessthemen im engeren Sinne. Der einfachen Übertragbarkeit stehen einige grundsätzlich Unterschiede zwischen Luftfahrt und Automobilbau entgegen. Denn Entwicklungszeit, Innovationsgeschwindigkeit, Stückzahlen, Kosten und Nutzungsdauer des Produktes unterscheiden sich deutlich. Dennoch: Die Prozessschritte in der Elektronik- und Softwareentwicklung sind in beiden Industrien vergleichbar, etwa beim Anforderungsmanagement, den Architekturen und Spezifikationen oder beim Qualitätsmanagement. Auch die Prozesssemantiken sind in der Regel eng verwandt – ebenso wie die technologische Grundlage, etwa die Prozessoren oder Programmiersprachen. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten lassen sich erfolgversprechende Ansatzpunkte für die Automobilindustrie finden.
Die steigende Bedeutung von Software im Fahrzeug ruft nach einem gleichermaßen effizienten und robusten Softwareentwicklungsprozess. Immer mehr Funktionen müssen in immer kürzeren Zeitspannen von immer mehr Mitspielern unter Beachtung von zunehmend unübersichtlicheren Randbedingungen umgesetzt werden. Die daraus erwachsende enorme Prozess- und Methodenkomplexität kann nur dann beherrscht werden, wenn die Entwicklungsschritte im Netzwerk von Fahrzeugherstellern, Zulieferern und Dienstleistern nahtlos ineinandergreifen. Die Aufgabenteilung muss klar definiert und allen Beteiligten transparent sein. Eine wichtige Maßnahme in dieser Richtung ist die Standardisierung von Schnittstellen.
In der Luftfahrtindustrie hat man schon länger die großen Vorteile der Standardisierung von nicht-differenzierenden technischen Lösungen erkannt und handelt danach: In den letzten Jahren ist die Digitalisierung des Autos durch den extensiven Einsatz von Elektronik und Software mit hoher Innovationsgeschwindigkeit vorangetrieben worden, so dass mittlerweile die Systemkomplexität eines Premium-Automobils mit allen Varianten die eines modernen Verkehrsflugzeugs übersteigt – zumindest gilt dies, wenn man das schiere Gesamtaufkommen an Software und Daten zugrunde legt. Standardisierung, so wie es die Luftfahrtindustrie vormacht, ist eine Möglichkeit, einen Teil der Komplexität aus dem Entwicklungsprozess herauszunehmen: Ein Modell für die Automobilindustrie!
Technologien
Wo liegen die Potenziale auf der Ebene der Technologien? Die technologischen Grundlagen wie Prozessoren, Programmiersprachen, Sensoren und Aktuatoren sind vergleichbar. Aber: Der 1:1-Transfer von Technologien ist nicht realistisch und bringt keinen durchgreifenden Erfolg. Sinnvoll ist dagegen der „Transfer von Erfahrungen“ bei der Lösung von Problemen, beispielsweise in den Bereichen der System- und Unterstützungsfunktionen. Dazu gehören:
Betriebsfunktionen (Steuerung, Kontrolle und Gewährleistung des Systembetriebs, zum Beispiel für Energieversorgung, Netzwerkkommunikation, Safety-Funktionen oder Security-Funktionen)
Administratorfunktionen (Unterstützung von Entwicklungs-, Produktions- und Serviceprozessen, zum Beispiel Diagnose).
Ähnliches gilt für die Grundfunktionen auf der Anwendungsebene, wie Sensor- und Datenfusion, Systemzustandserfassung, Umfelderkennung, zentrale Systemkoordination sowie Manöverunterstützung und -durchführung.
Ein Beispiel dazu: Die Integration von immer mehr Assistenzsystemen führt potentiell zu komplexerer Bedienung. Mehr Automation heißt daher nicht zwangsläufig auch mehr Sicherheit. Hier können die Erfahrungen aus der Luftfahrt weiterhelfen, wo man sich schon länger mit Fragen der kognitiven Automation zur Sicherstellung des Situationsbewusstseins befasst.
Top-down-Architekturentwicklungsprozess
Den technologischen Paradigmenwechsel – weg vom klassischen Maschinenbau, hin zu Elektronik, eingebetteten Systemen und IT – hat die Automobilindustrie mehr oder weniger bereits hinter sich. Es geht aber weiter: die Elektrifizierung des Antriebs, der weiter rasant wachsende Einsatz von Software und die Fülle der unterschiedlichen neuen und stark vernetzten Assistenzsysteme sowie die Verwischung der Systemgrenzen durch cyberphysische Systeme erfordern neue Lösungen. Ein Beispiel: Autonomes Fahren im Sinne der seriös verantwortbaren und juristisch wie gesellschaftlich gebilligten Übernahme der Fahrzeugführung durch eine Systeminstanz wird auf dem bisherigen Wege der vorwiegend komponentenorientierten Entwicklung kaum realisierbar sein. Hierzu bedarf es neuer und radikalerer Ansätze. Als eine unabdingbare Voraussetzung sehen wir insbesondere das bereits angeführte ganzheitliche Systemverständnis im Entwicklungsprozess.
Der in der Luftfahrtindustrie etablierte hochentwickelte Top-down-Architekturentwicklungsprozess ist in dieser Hinsicht beispielgebend. Blenden wir das Anforderungsmanagement im engeren Sinne einmal aus, so beginnt der Entwicklungsprozess zu allererst mit dem Systemarchitekturansatz. Die bestimmenden Elemente dieses Top-Down-Architekturentwicklungsprozesses sind Standardisierung, Vereinheitlichung der Schnittstellen und Abstraktion von technischen Detaillösungen.
Einen ganz wichtigen Aspekt möchten wir hier prominent hervorheben: Safety, Security und Verifikation können nur auf Seiten der Architektur wirklich sinnvoll „hergestellt“ werden. Auf der Subsystem- und Komponentenebene ist das nur sehr unvollkommen möglich und erzeugt dennoch einen immens hohen Aufwand. Sicherheit ist unteilbar und muss deswegen als Ganzes von der Architektur her „entworfen“ werden. Die Luftfahrtindustrie mit ihrer aus Erfahrung gewachsenen Hinwendung auf hochverlässliche Systeme und sichere Funktionen kann auch in dieser Hinsicht als Beispiel dienen.
Gewiss ist dieser Anspruch mit einer großen Anstrengung verbunden. Es entsteht aber auch ein Gegenwert: technologisch, funktional, prozessual und, so die These, auch monetär. Es wird langfristig einfacher, die Kosten in den Griff zu bekommen, weil in einem ganzheitlichen Systemarchitekturansatz die Wiederverwendung von Lösungsbausteinen als Entwurfsfaktor vorgesehen ist, weil im Entwicklungsprozess durchgängige Werkzeuge eingesetzt werden können und so Effizienzgewinne entstehen – und weil der zugrundeliegende Ansatz langfristig trägt und so Planungs- und Investitionssicherheit gibt.