Industrial Software „Digital Natives wollen nur dreimal hin und her wischen“


„Die Zentrierung von MES auf einen Standort muss aufgelöst werden“, fordert Steffen Himstedt von Trebing + Himstedt.

16.03.2012

Rote-Couch-Talk mit Steffen Himstedt von Trebing + Himstedt über MES und Social ManufacturingDie Industrie nutzt heute meist nur einzelne Funktionen von Manufacturing-Excecution-Systemen. Doch weltweit verteilte Produktionen verändern die Vorzeichen für ihre Einführung, so Steffen Himstedt von Trebing + Himstedt. Er ist überzeugt: Die junge Generation wird an MES ähnliche Erwartungen wie ans Smart-Phone haben.

P&A: Wie beurteilen Sie die heute übliche Nutzung von MES, Herr Himstedt? Können die Systeme nicht viel mehr, als sie in den meisten Anwendungen zeigen dürfen?

Steffen Himstedt: Das Potenzial von Manufacturing-Execution-Systemen ist noch lange nicht ausgereizt. Viele Unternehmen starten mit MES-Modulen, beispielsweise mit der Betriebsdatenerfassung. Doch derzeit herrscht eine große Dynamik im Markt: Neue Funktionen werden angefragt und programmiert, neue Anbieter kommen hinzu. Noch nach 25 Jahren MES-Nutzung befinden wir uns in gewisser Weise in der Startphase.

Entspricht der Start über ein Funktionsmodul denn nicht einer sehr pragmatischen Herangehensweise?

Häufig wird so ein Bedarf punktgenau gedeckt, der aus der Produktion entsteht. Später stellen die Verantwortlichen dann fest, dass das System noch mehr Möglichkeiten bietet und erweitert werden könnte. Einer der Nachteile dieser Art von Implementierung ist, dass damit sehr viele Einzellösungen entstehen. Diese müssen vernetzt werden. Eine größere Integration zwischen Produktions- und Automationssystemen, der eigentlichen MES-Modulwelt und der ERP-Landschaft ist gefordert. Viele der heutigen Implementierungen sind zu sehr auf ein Einzelproblem abgestellt.

Welche Anforderungen entstehen dadurch, dass Unternehmen zunehmend international agieren?

Das verändert natürlich die im MES abgebildeten Produktionsströme. Und in dem Maße, in dem MES an Produktionsstandorten in Lateinamerika, Mittelamerika und Asien genutzt wird, müssen sich die Anbieter auf eine Belegschaft einstellen, die vielleicht nicht mit dem Computer groß geworden ist. In Europa dagegen sehen sich die Anbieter mit einer alternden Belegschaft konfrontiert - und auf der anderen Seite mit hohen Erwartungen der Digital Natives. In der Produktion kann man sich nicht aussuchen, wer an der Maschine steht. Sie muss sowohl von älteren als auch von jungen Mitarbeitern gut zu bedienen sein.

Wie kann ein MES weltweit verteilte Produktionen abbilden?

Die Zentrierung vom MES auf einen Standort muss aufgelöst werden - auf ein global vernetztes System, welches mit anderen Standorten und MES interagiert. Dann fließen auch die Informationen über Standortgrenzen hinweg.
Heute wird bei 50 Prozent der Projekte von vornherein eine globale Implementierung angestoßen. Vor zehn Jahren war das anders: Da haben die meisten nur auf Standortebene gedacht und sich später Gedanken gemacht, wie sie die Informationen über Standortgrenzen hinweg bekommen.

Welchen Kardinalfehler sollte man bei der Einführung tunlichst vermeiden?

Ein MES-Projekt ist nicht nur ein IT-Projekt - es ist vor allem auch ein Organisationsprojekt. Wenn die Grundlagen nicht stimmen, gibt es Probleme. Ein Beispiel: Aus der Produktion kommt ein konkreter Bedarf. Es soll etwas verändert werden und jemand kommt auf die Idee, dass man das mit einem MES machen könnte. Dann wird relativ hemdsärmelig ein MES ausgewählt und eingeführt. Das Wichtigste an einem MES-Projekt ist aber, dass die Produktionsprozesse zunächst in Form einer Ist-Analyse aufgenommen werden, die entsprechend moduliert und dokumentiert wird. So entsteht ein möglichst präzises Lastenheft, das nicht nur dem Anbieter als Basis dient. Alle Beteiligten können immer wieder darauf referenzieren. Empfehlenswert ist ein moderierter Workshop mit Produktionsleitern, Vertretern der IT und eventuell dem Leiter der Qualitätssicherung.

Sie erwähnten das Spannungsfeld, das durch sehr unterschiedliche Backgrounds der Nutzer entsteht. Wie kann ein MES ausschauen, das Digital Natives anspricht und zugleich die älteren Mitarbeiter abholt?

Schon heute sehen wir, dass die iPhone-Bedienphilosophie, wohl der typischste Vertreter neuer Technologien, in den Produktionsprozess eindringt. Multi-Touch-Bedienung ist inzwischen auch bei MES ein Trend. Über kurz oder lang wird sich die komplette Bedienoberfläche ändern - von relativ starren Masken zu dynamischeren, interaktiven, Oberflächen. Digital Natives werden nach einem Eingabefeld à la Google verlangen, damit sie fehlende Informationen, etwa über eine bestimmte Charge, suchen können. Diese Informationen gebündelt dargestellt - das finden Sie heute in der Regel noch nicht; die sind noch hinter vielen unterschiedlichen Masken versteckt. Digital Natives wollen aber nur dreimal hin und her wischen und dann muss die Information da sein. Das wird das Erscheinungsbild der MES verändern.

Können die „alten Hasen“ am Schluss noch damit umgehen?

Ich hoffe ja. Heute nutzt ein Vierjähriger ja genauso selbstverständlich ein Smartphone wie ein 50- oder 60-jähriger. MES muss das Beste aus der Internet- und Smartphone-Welt mit der Produktionsumgebung verschmelzen. Dann können sowohl die Digital Natives als auch die älteren Mitarbeiter auf derselben Plattform arbeiten.

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