Die Krisen der letzten Jahre haben nicht nur Spuren in den Bilanzen der Chemie- und Pharmaunternehmen hinterlassen, sie beeinflussen auch den Umbau der Branche zur Klimaneutralität. VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup ordnet ein: „Unsere Unternehmen arbeiten mit voller Kraft an der Transformation. Aber sie agieren nicht im luftleeren Raum – die Standortbedingungen in Deutschland haben sich fundamental verschlechtert. Wir müssen wirtschaftliches Wachstum und Klimaschutz wieder in Einklang bringen.“ Wo sich der Abschwung zeigt und wie die Branche wieder in den Zukunftsmodus schalten kann, hat der Verband der Chemischen Industrie (VCI) in zwei Studien aufarbeiten lassen.
Update Chemistry4Climate: Bedarf an Strom und Wasserstoff sinkt
In einem Update der Szenarien der Klimaschutzplattform „Chemistry4Climate“ hat die DECHEMA Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie im Auftrag des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) und des VCI untersucht, wie sich der Rückgang der Produktionsmengen auf die Transformationswege der Chemie auswirkt. Dieter Westerkamp, Bereichsleiter Technik und Gesellschaft beim VDI, unterstreicht die Dringlichkeit: „Die Produktionsrückgänge sind so massiv, dass wir die Datenbasis der Chemistry4Climate-Studie aktualisieren mussten. Nur durch eine präzise und aktuelle Analyse können wir zielgerichtet herausfinden, wie die Transformation der Branche gelingen kann.“
Alexis Bazzanella, Studienautor bei der DECHEMA, hat die Neuberechnungen durchgeführt und erläutert die Ergebnisse: „Durch die Produktionsrückgänge bei besonders erdgas- und energieintensiven Basischemikalien sinken etwa die Bedarfe der Branche für Strom und Wasserstoff. Die technologischen Hebel zur Transformation – also der Ersatz fossiler Rohstoffe und die Prozesselektrifizierung – bleiben aber unverändert.“
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup stellt angesichts der neuen Zahlen klar: „Weniger Nachfrage nach Strom und Wasserstoff verändert beispielsweise Infrastrukturanforderungen in Deutschland. Der Weg zur Klimaneutralität wird damit aber nicht automatisch leichter. Im Gegenteil: Dem Klima ist mit dem deutschen Produktionsrückgang nicht geholfen und unser Standort wird anfälliger für Lieferkettenprobleme.“
BCG-Studie liefert Stimmungsbild und Lösungswege
Die Boston Consulting Group (BCG) hat in ihrer Studie die VCI-Mitglieder befragt. Ein zentrales Ergebnis: Die Stimmung in der deutschen Chemiebranche ist dramatisch schlecht. Madjar Navah von BCG konkretisiert: „Fast drei Viertel der Befragten hält es derzeit für unwahrscheinlich, Investitionen in neue Anlagen und Standorte in Deutschland zu tätigen.“ Als größte Investitionshemmnisse werden von den Unternehmen Bürokratie, nicht wettbewerbsfähige Energiekosten sowie lange Genehmigungsverfahren genannt. Auch den Innovationsstandort Deutschland betrachten nur noch gut ein Viertel der Befragten in Chemie- und knapp die Hälfte in Pharmaunternehmen als zukunftsträchtig. BCG macht in ihrer Studie deutlich, dass die digitale und nachhaltige Transformation von den Unternehmen umfangreiche Innovationen und Investitionen erfordere.
BCG sieht vier zentrale Hebel, um den Standort wieder wettbewerbsfähig zu machen. Madjar Navah: „Wirtschaft, Politik und Wissenschaft müssen vor allem diese Themen adressieren: Innovationskraft stärken, Produktionsstandort aufwerten, Wertschöpfungsketten absichern, Fachkräfteverfügbarkeit sicherstellen.“
Hoffnung macht dem BCG-Experten, dass „Deutschland noch über eine starke und in weiten Teilen wettbewerbsfähige Chemie- und Pharmaindustrie verfügt. Das Land hat das Potenzial, auch in Zukunft als führende Chemie- und Pharmanation erfolgreich zu sein.“
An erfolgreicher Transformation entscheidet sich Standortzukunft
VCI-Hauptgeschäftsführer Große Entrup betont angesichts der Studienergebnisse: „Energieintensive Industrien wie die chemische Grundstoffindustrie sind Eckpfeiler des deutschen Wohlstands und Innovationsmotor für alle nachgelagerten Industrien. Diese wichtigen Keimzellen für den klimaneutralen Umbau des Industriestandorts müssen erhalten bleiben.“ Die Energie- und Klimapolitik müsse den Glauben an sichere und bezahlbare Energie in Deutschland zurückgeben. Das sei auch Basis für viele neue Produktionsverfahren, etwa durch Elektrifizierung. Auch der VCI sieht die zahlreichen weiteren Problemfelder wie Bürokratie-Overload, zu hohe Steuern oder Probleme bei der Umsetzung von Grundlagenforschung in neue Geschäftsmodelle.
Große Entrup macht deutlich, was er jetzt von der Politik erwartet: „In unserer Branche zeigen sich die Probleme des Standorts wie unter einem Brennglas. Sie betreffen aber alle Branchen. Wir brauchen jetzt mit Hochdruck eine umfangreiche und langfristige Innovations- und Wachstumsagenda. Es geht um nicht weniger als das deutsche Wohlstandsmodell. Das sollte über Parteigrenzen hinweg oberste Priorität haben.“