Die Aktivierung von Sicherheitssystemen soll Kollisionen verhüten. Die zur Aktivierung der Systeme notwendigen Daten müssen dafür zum Großteil Umfeldsensoren bereitstellen. Aufgrund von Anforderungen an Zuverlässigkeit und Sichtfeld werden oftmals die Umfelddaten mehrerer Sensoren fusioniert.
Die Kernkomponente eines aktiven Sicherheitssystems ist die Klassifikation dieser Daten. Bis kurz vor einer drohenden Kollision besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass es nicht zu einem Unfall kommt. Deshalb ist es sinnvoll, die Klassifikation eines Szenarios in ein Unfall- oder Nichtunfallszenario mit analogen Werten anzugeben, zum Beispiel auf einer Skala von 0 bis 100.
Nach der Klassifikation eines Szenarios muss eine Aktion festgelegt werden. Dieser Schritt wird im Folgenden als Navigation bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings nicht zu verwechseln mit einer Straßennavigation, die den Fahrer von einem Ort A zu einem Ort B leitet. Vielmehr geht es darum, in einem Zeitraum von ein bis fünf Sekunden vor einem drohenden Unfall festzulegen, ob in Bezug zu einem Hindernis ausgewichen, gebremst oder das eigene Fahrzeug in eine Position gebracht werden soll, in dem ein Unfall möglichst geringe Folgen hat. Neben der Navigation des Fahrzeugs als Hauptaufgabe der aktiven Sicherheit gilt es, Fahrzeug und Insassen zu konditionieren. Hierzu werden unter anderem Gurte gestrafft, Sitze positioniert und Fahrzeugöffnungen geschlossen. Diese Nebenpfade sollen in diesem Artikel nicht betrachtet werden.
Die Daten aus der Navigation werden innerhalb eines aktiven Sicherheitssystems an das Fahrwerk übergeben. Das Fahrwerk stellt ein mechatronisches System dar, das die Fahrbewegung längs- und querdynamisch beeinflusst. Um diese Systemstruktur in eine Simulation zu überführen, muss jedes Teilsystem in ein eigenes Simulationsmodell überführt werden. Zusätzlich wird ein Simulationsmodell für die Unfallsituation selbst hinzugefügt.
Schritt für Schritt
Für aktive Sicherheitssysteme werden unterschiedliche Umfeldsensortechnologien genutzt. Die Spanne reicht von Mono- und Stereokameras über laserbasierte Sensoren bis zur Radartechnologie. Daher ist es notwendig, Umfeldsensorik technologieunabhängig zu simulieren. So können zum Beispiel Sichtbereiche, Erkennungsraten oder Überlagerungssignale definiert und zu einer Konfiguration zusammengeschaltet werden. Abhängig vom jeweiligen Entwicklungsprojekt werden die notwendigen Kenndaten vom Auftraggeber zur Verfügung gestellt oder über IAV-eigene Testverfahren ermittelt. Aufgrund der Technologieunabhängigkeit können sowohl sehr realitätsnahe Sensormodelle erstellt werden, die eine bestimmte Technologie oder ein spezifisches Produkt simulieren, als auch hypothetische Sensoren modelliert werden, um daraus Parameter für Sensorlasten- oder -pflichtenhefte abzuleiten.
Die Aufgabe der Sensordatenfusion besteht darin, aus unterschiedlichen Sensordaten einen möglichst optimalen Sensordatenstrom zu generieren und somit die Vorteile der verschiedenen Technologien nutzen zu können. Die Sensordatenfusion muss entscheiden, welchem Umfeldsensor wie viel Einfluss zugesprochen wird. Dieser Einfluss ist abhängig von den jeweiligen Eingangsgrößen und damit dynamisch zu ermitteln.
Für das Simulationsmodell der Sensordatenfusion verfolgt IAV den Ansatz einer vieldimensionalen Zuordnungstabelle. Diese legt für jeden Eingangsvektor in die Sensordatenfusion einen Erwartungswert und eine Standardabweichung für den Ausgangswert fest. Die Zuordnungstabelle wird auf Basis der vorher festgelegten Umfeldsensormodelle und den daraus resultierenden Sensordatenströmen gefüllt. Da das Füllen der Zuordnungstabelle eine Art Training darstellt, wird das Modell besser, wenn der Sensordatenstrom verlängert wird. Dies bedeutet, abhängig vom Projektumfang können sehr grobe Modelle mit einer sehr kleinen Trainingsmenge oder ein sehr feingranulares Modell mit umfassenden Trainingsdaten erzeugt werden.
Die Klassifikation bewertet verschiedene Situationen hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Unfalls. Die Vorgehensweise für das Simulationsmodell der Klassifikation ist äquivalent zur Sensordatenfusion. Auch hier wird eine Zuordnungstabelle erstellt. Diese wiederum ordnet allen vorangegangenen Eingangsvektoren eine festgelegte Unfallwahrscheinlichkeit zu. Das Training der Zuordnungstabelle erfolgt auf Basis idealer Umfeldsensoren und einem Unfallklassifikator mit dem IAV-Programm „SceneSuite“. Auch für dieses Modell hängt die Modellgüte maßgeblich von der Menge der Trainingsdaten ab.
Von der Klassifikation zur Navigation
Die Navigation sorgt in einer kritischen Fahrsituation für die Auswahl der bestmöglichen Aktion. Für das Aktionskonzept existieren unterschiedliche Optimierungsmöglichkeiten. So kann darauf optimiert werden, höhere Unfallwahrscheinlichkeiten als die aktuelle in jedem Fall zu vermeiden. Eine andere Optimierungsstrategie kann sein, möglichst schnell ein sehr geringes Gefahrenniveau zu erreichen, selbst wenn kurzzeitig ein höheres Gefahrenniveau erreicht wird. Die Simulation der Navigation setzt auf die Zuordnungstabelle der Klassifikation auf. Während die Klassifikation eine eindeutige Vorwärtszuordnung einer Unfallwahrscheinlichkeit zu einem Fahrvektor vornimmt, nutzt die Navigation das gleiche Modell rückwärts, um festzustellen, welche Eingangsvektoren mit niedriger Unfallwahrscheinlichkeit unter Berücksichtigung der Fahrdynamikgrenzen erreicht werden können. Da die Zuordnung der Eingangsvektoren zu Unfallwahrscheinlichkeiten nicht eindeutig ist, sieht der IAV-Simulationsansatz eine Parametrierung hinsichtlich der genannten Kriterien vor.
Die Fahrdynamiksysteme sorgen für die Übertragung der Wunschdynamik auf die reale Dynamik im Fahrzeug. Für die Simulation der aktiven Sicherheit verfolgt IAV einen stark vereinfachten Modellansatz. Hintergrund ist, dass die Fahrdynamikkonzepte intelligenter werden und Wunschdynamik und reale Dynamik mehr und mehr zusammengeführt werden. Daher verfolgt das Modell eine direkte Übertragung der Soll- auf die Ist-Dynamik bis an die physikalische Grenze. Übersteigt die Wunschdynamik die physikalische Dynamikgrenze, so wird die Dynamikgrenze als Ausgabewert eingestellt. Wird für die Simulation der Fahrdynamik ein genaueres Modell benötigt, so kann dies über eine externe Schnittstelle eingebunden werden.
Das Unfallmodell hat die Aufgabe, die Transformation der Fahrzeugbewegung in einer Unfallsituation vorzunehmen. Auch für dieses Modell wird ein stark vereinfachter Modellansatz verfolgt, da ein Optimum zwischen Modellgenauigkeit und Rechengeschwindigkeit erreicht werden soll. Abhängig vom Anwendungsfall besteht die Anforderung zur Simulation einer fünfstelligen oder sechsstelligen Zahl an Szenarien. Für diese Anzahl wäre ein detailliertes FEM-Modell nicht vorteilhaft. Stattdessen wird für die Simulation von Unfällen für die aktive Sicherheit ein einfaches Impulsmodell genutzt. Dieses Modell stellt eine Zuordnung der Endlage eines Unfalls zu einer Anfangslage her. Die Unfallphase selbst kann nur mit Hilfe einer Interpolation hergestellt werden. Da diese Phase für die aktive Sicherheit aber nur von untergeordnetem Interesse ist, ist dieser Ansatz für den Simulationsfokus das Mittel der Wahl. Wird eine präzisiere Simulation der Unfallphase benötigt, kann auch dieses Modell über eine externe Schnittstelle gegen ein detailreicheres Modell ersetzt werden.
Nutzung und Nutzen
Die Simulation ist in der Entwicklung passiver Sicherheitssysteme weit verbreitet. Im Bereich aktiver Sicherheitssysteme ist Simulation jedoch noch nicht umfassend in die Standardprozesse integriert, sie bietet jedoch erheblichen Nutzen. So stehen in den frühen Phasen der Systementwicklung in aller Regel keine Komponenten zur Verfügung, um damit die Konzepte zu validieren. Wenn die komplette Systemkette als Simulationsmodell vorliegt, ist eine simulationsbasierte Validierung möglich. Auf dieser Basis können eine Indikation über die Machbarkeit des Systems erstellt und mögliche Entwicklungsrisiken herausgearbeitet werden. Eine zentrale Frage bei der Auslegung aktiver Sicherheitssysteme ist die Wirksamkeit bezüglich des Unfallgeschehens im Straßenverkehr. Der vorliegende Ansatz ermöglicht Abschätzungen in sehr frühen Projektphasen mit ersten groben Modellen. Aktive Sicherheitssysteme bestehen aus vielen unterschiedlichen Komponenten, die in der Regel multifunktional genutzt werden. Die Umsetzung unterschiedlicher Funktionen erfolgt in zentralisierten Steuergeräten. Um die Komponenten zielgerichtet auszuwählen oder zu entwickeln, müssen eindeutige und messbare Anforderungen an die Komponenten gestellt werden. Diese Anforderungen können auf Basis der Simulationen ermittelt werden.
Für die wirtschaftliche Bewertung der Simulation sind im Wesentlichen drei Kennzahlen relevant: Einfluss auf die Entwicklungseffektivität, Einfluss auf die Entwicklungseffizienz und Einfluss auf die Entwicklungsdauer. Der Haupteinfluss von Simulation für Entwicklung von aktiven Sicherheitssystemen liegt sicherlich in der Verkürzung der Entwicklungsprojekte und einer damit verbundenen Effizienzsteigerung. Diese Verkürzung lässt sich im Wesentlichen mit den langen Entwicklungsphasen in der Komponentenentwicklung begründen. Werden Systemkomponenten in frühen Entwicklungsphasen simuliert, können Entscheidungen deutlich schneller gefällt werden, da deren Auswirkungen in der Simulation dargestellt und bewertet werden können, ohne auf die Realisierung, Integration und Fahrzeugversuche warten zu müssen. Damit kann zusammenfassend festgestellt werden, dass das „Virtual Life“ für aktive Sicherheitssysteme erhebliche Vorteile im Entwicklungsprozess insbesondere in der Verkürzung der Entwicklungszeit mit sich bringt.