Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt vor bislang als ungefährlich eingestuften Krankheiten: Schnupfen, Windpocken, Masern. Einfache, zum Teil längst für ausgerottet erklärte Infektionen könnten in die Riege tödlicher Gefahren aufsteigen. Müsste man beantworten, wer an diesem Dilemma schuld hat, müssten wir mit dem Finger auf uns selbst zeigen. Durch den Wetteifer nach einem Körper, der immer mehr Leistung bringen kann und einhergehend damit auch weniger Freizeit beziehungsweise Raum für Regeneration braucht, haben wir selbst das zerstörerische Potenzial solch vermeintlich lapidarer Krankheiten auf ein neues Level gehoben. Die WHO spricht von der postantibiotischen Ära.
Geht es uns schlecht, fragen wir den Arzt, ob er uns nicht das passende Mittel verschreiben kann. Denn wir sind mit dem Wissen aufgewachsen, dass die Medizin eine Wunderwaffe gegen Krankheiten besitzt. Ein Drittel der Deutschen hat in den vergangenen zwölf Monaten den Hausarzt um ein Antibiotikum gebeten, sagt eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag der DAK-Gesundheit. Dabei wirken Antibiotika nur bei durch Bakterien ausgelösten Infektionen. Bei allen anderen Erkrankungen sind sie nutzlos. Gegenüber dem Umfrageinstitut Forsa gaben vier von zehn Befragten an, dass sie Antibiotika auch gegen Viruserkrankungen einnähmen: Bronchitis, Erkältung oder Husten. Dies seien nicht unbedingt Präparate, welcher der Arzt für die aktuelle Erkrankung fälschlicherweise verschrieben habe, nimmt der DAK-Antibiotikareport die Mediziner in Schutz: Rund 14 Prozent der Befragten griffen eigenmächtig auf angebrochene Pillenpackungen aus dem Badezimmerschrank zurück. Dabei sollten Antibiotika „nicht in Eigenregie und nur in Rücksprache mit einem Arzt eingenommen werden“, mahnt Prof. Dr. Gerd Glaeske, Co-Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung der Universität Bremen.
Risiko Selbstdiagnose
„Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sowie zu den übrigen OECD-Staaten werden in Deutschland wenige Antibiotika pro Kopf verordnet“, sagt Dr. Elmar Kroth. Er ist Geschäftsführer Wissenschaft im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH), der mitgliederstärksten Interessenvertretung der Branche. „Deutschland liegt am unteren Ende der Vergleichsskala.“ Doch auch der „niedrige“ Verbrauch an Antibiotika kann Folgen haben, werden die Medikamente falsch gebraucht. So entwickeln Bakterien Widerstandsfähigkeit gegenüber Antibiotika und werden resistent. Die Natur findet Schlupflöcher, die Wunderwaffe verliert ihre Schlagkraft. „Die Zunahme an resistenten bakteriellen Krankheitserregern sowie die damit einhergehenden fehlenden Therapiemöglichkeiten stellen heute eine immense globale Herausforderung dar“, so Kroth.
Aktuell sind 8.000 verschiedene Antibiotika bekannt, weltweit werden rund 100.000 t der Mittel jährlich produziert. Antibiotika sind nach Herz-Kreislauf-, Magen-Darm- und Psychopharmaka der viertgrößte Medikamentenmarkt. Zuletzt betrug der Umsatz weltweit knapp 20 Mrd. Dollar.
Die Erfolgsgeschichte beginnt auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs: Penicillin wird 1929 als erstes Antibiotikum von Alexander Fleming entdeckt. Erst 16 Jahre später analysiert man den Stoff genauer und ehrt Fleming nachträglich mit einem Nobelpreis. Denn Penicillin greift zielsicher nur Bakterien an und keine „gesunden“ Zellen (mit Zellkern). Bis heute ist Penicillin das Vorzeigemittel unter den Antibiotika. 2014 wurden deutschlandweit insgesamt 20,4 Mio. Tagesdosen verschrieben. Ab den 50er-Jahren wurde Penicillin auch in Deutschland eingesetzt: gegen Strepto- und Staphylokokken. Heute ist der Großteil ihrer Stämme resistent; die Membranen lassen kein Penicillin mehr durch. Jedes Antibiotikum ist in der Regel nur wirksam gegen eine bestimmte Art von Bakterien. In den 70ern hingegen suggerierten die Medien, dass der Arzt beispielsweise mit Penicillin ein Präparat in der Hand hätte, mit dem praktisch jede Infektionskrankheit mühelos zu heilen sei.
Doch im Jahr 2015 sind die Menschen aufgeklärter, die Hochzeit der Antibiotika ist vorbei. Die Forschung vermeldet immer seltener, an neuen Antibiotika zu arbeiten. Die Pharmakonzerne richten ihren Blick längst verstärkt auf andere Felder. Die Welle antibiotikaresistenter Bakterien, sogenannter Superkeime macht sich hier bemerkbar. „Die Entwicklung neuer Antibiotika ist wissenschaftlich immer anspruchsvoller und zudem sehr kostspielig. Auch die Anzahl der Arzneimittel-Hersteller, die Antibiotika mit bekannten Wirkstoffen auf den Markt bringen, ist seit Jahren rückläufig“, so Elmar Kroth vom BAH.
PPP als Gebot der Stunde
Der deutsche Markt für Antibiotika schrumpft: 2012 lag der Umsatz aller in Deutschland verschriebener Antibiotika nur noch bei 772 Mio. Euro. Das Krebsmedikament Glivec erwirtschaftete zuletzt allein rund vier Mrd. Euro. Doch trotz des Rückwärtsgangs ist der Sektor umkämpft – aufgeteilt auf die großen Fünf der Branche, der Mittelstand hat hier nicht mitzureden. Entsprechend groß ist der Druck. So wollte sich beispielsweise Bayer nicht zur eigenen Positionierung auf dem Antibiotika-Markt äußern. Die Angst, ungeahnt der Konkurrenz einen Vorteil zu verschaffen, ist immens. Dabei ergeht es den anderen nicht besser. Alle auf dem Feld agierenden Konzerne leiden unter der wachsenden Zahl von Keimen, die gegen die einst gefeierten Mittel resistent geworden sind. Die Wunderwaffe hat längst an Glanz verloren und die Branche ihren eigenen Pillenknick erlebt: 50 Prozent der Staphylokokken sind mittlerweile gegen Penicillin unempfindlich.
Die Großen der Branche zeigen nun wieder verstärkt Präsenz. Denn die Konzerne haben einen neuen Weg gefunden, wie sie auf diesem schwierigen Markt doch noch profitieren können. Eine Erfolgsstrategie heißt PPP – Public Private Partnership: Kooperationen zwischen Wissenschaft und Industrie zur Entwicklung neuer Wirkstoffe. „Als positives Beispiel kann hier das Exzellenzzentrum für Naturstoffforschung genannt werden, das ein gemeinsames Projekt des Arzneimittel-Herstellers Sanofi und der Fraunhofer-Gesellschaft in Frankfurt ist“, erläutert Dr. Kroth vom BAH. Zudem will auch Roche bis zu einer halben Mrd. Schweizer Franken in die kleine Firma Polyphor pumpen. 2014 gab der Basler Konzern rund acht Mrd. Franken für Forschung und Entwicklung aus. Polyphor forscht an einem neuen Mittel zur Bekämpfung eines multiresistenten Bakterienstamms. Die Firma beschäftigt rund 100 Mitarbeiter, Roche weltweit über 88.000.
Für die großen Player wie Roche sind diese niedrigen Ausgaben Investitionen, die sich rechnen. Denn ihr Hauptaugenmerk richtet sich weiter auf die Entwicklung von Medikamenten gegen Erektionsstörungen oder Haarausfall und Cholesterinsenkern – Mittel, die heute den Erlös eines Unternehmens prägen. Die Forschung im weniger profitablen Antibiotika-Sektor wird einfach ausgegliedert. Erzielt die Wissenschaft überraschenderweise einen bahnbrechenden Erfolg, kann der Konzern sein eingestampftes Portfolio mit Antibiotika-Mitteln reaktivieren. Sollte Polyphor einen Durchbruch bei der Entwicklung des eigenen Wirkstoffs verbuchen, übernimmt Roche Produktion und Vertrieb.
Anreize gefragt
Auch Pfizer setzt auf PPPs. Rund ein Dutzend Mittel mit antibakterieller Wirkung vertreibt das milliardenschwere Unternehmen, bis 2012 war es die Nummer eins der Branche. „Forschergruppen aus wissenschaftlichen Einrichtungen erhalten eine finanzielle Unterstützung von uns, um im Bereich der Diagnostik oder Therapie bakterieller Infektionskrankheiten Forschungsprojekte durchführen zu können“, sagt Kerstin Vincze von Pfizer Deutschland.
Doch PPPs können die Forschungsarbeit der Pharmakonzerne nicht ersetzen, weiß auch Dr. Kroth vom BAH und appelliert an den Gesetzgeber, das wirtschaftliche und sozialrechtliche Rahmenkonstrukt der Antibiotika-Vermarktung zu überarbeiten: „Es müssen Anreize geschaffen werden, damit der Fokus der Arzneimittel-Hersteller auf ihre Kernkompetenz, neue Präparate zu erforschen und bewährte Produkte zu vertreiben, weiter geschärft wird.“
Vielleicht findet sich dann irgendwann wieder ein Medikament, das einen Forscher 16 Jahre später zum Nobelpreisträger macht; ein Medikament, das über Jahrzehnte hinweg als Wunderwaffe stilisiert wird.