Angestoßen von Gesellschaft und Politik ist die nachhaltige Entwicklung von Werkstoffen und Chemieprodukten seitens der Industrie zusätzlich getrieben durch Haftungsfragen und Verbraucherakzeptanz. Auch knapper werdende Rohstoffe sowie steigende Preise bei Ausgangsstoffen erfordern laufend eine Prüfung von Substitutionsmöglichkeiten. Aber die chemische Industrie kann den Wegfall eines Zusatzstoffs, der mit dem weiteren Gesamtstoffsystem in vielschichtiger Weise in Beziehung steht, in der Regel nicht einfach durch einen Ersatzstoff auffangen. Insbesondere Branchen mit komplexen Gemischen können Ausfälle von Rohstoffen nur schlecht kompensieren.
Die Aufgabenstellung besteht daher in der Suche nach nachhaltigen Substitutionslösungen, die weniger kritische Eigenschaften aufweisen und sich am besten genauso einsetzen lassen wie der zu ersetzende Stoff. Eine der besonderen Herausforderungen ist neben den Kosten und der Zeit die verfügbare Datenlage zu den Stoffen.
Wege zur Substitution
Die Substitution von Stoffen hat in der Regel sehr direkte Auswirkungen sei es auf die Rezeptur oder das Herstellungs- oder Anwendungsverfahren. Existierende Hilfestellungen decken hierbei in der Regel nur sehr kleine Bereiche ab und haben den Stoff-gegen-Stoff-Ersatz im Fokus. Die Anforderung der Industrie ist jedoch der Ersatz von Stoffen oder Stoffgruppen in Gemischen. Somit bleibt in der Regel nur der Experte im eigenen Betrieb.
In einem gemeinsamen Forschungsvorhaben namens formula haben das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik Umsicht und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) an einer Methode gearbeitet, die die Lösung der beschriebenen Aufgabe mittels Software unterstützt. Das IGF-Vorhaben 17176 BG der Forschungsvereinigung Institut für Energie- und Umwelttechnik (IUTA) wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.
In Rahmen des Projekts formula wurden verschiedene Vorgehensweisen verknüpft. Bei der Recherche zu den verfügbaren und im Einsatz befindlichen Werkzeugen war die grundsätzliche Verpflichtung der Arbeitgeber nach §§ 7 der Gefahrstoffverordnung ein Ausgangspunkt. Gemäß der Verordnung ist bei dem Einsatz von Gefahrstoffen zu prüfen, ob eine Substitution möglich ist, damit eine Gefährdung des Arbeitnehmers möglichst vermieden wird. Das Vorgehen und die Ergebnisse einer solchen Prüfung sind zu dokumentieren. Erläuterungen hierzu finden sich unter anderem in der TRGS 600 Substitution, die auch das Spaltenmodell enthält. Für die Betrachtung am Arbeitsplatz gibt dieses einen schnellen Überblick. Für den Formulierer in der Produktion reicht dies jedoch nicht.
Etwas komplexer – aber immer noch begrenzt in seiner Aussagekraft – ist das Verfahren GreenScreen des Unternehmens Clean Production Action. Die Stoffe werden hierbei in Abhängigkeit ihrer Eigenschaften in vier Benchmarks eingeteilt:
Avoid – Chemical of High Concern (Vermeiden - Chemikalie mit besorgniserregenden Eigenschaften)
Use but Search for Safer Substitute (Einsetzbar, aber Suche nach sicheren Substituten)
Use but Still Opportunity for Improvement (Einsetzbar, aber immer noch Verbesserungspotenzial)
Prefer – Safer Chemical (Bevorzugen - Sichere Chemikalie)
Die verkürzte Darstellung bietet zwar Vorteile, birgt jedoch trotz des strukturierten Ermittlungsverfahrens Stoff für Diskussionen, wenn ein Stoff nur auf den Benchmark reduziert wird. Gemein ist solchen Verfahren, dass eine Menge an Informationen zu den einzelnen Stoffen erforderlich sind, die der Anwender beschaffen muss. Die zur Verfügung stehenden Datenbanken weisen jedoch häufig an den entscheidenden Stellen Lücken auf und widersprechen sich manchmal gegenseitig.
Verlässlicher sind an dieser Stelle Informationen auf Basis der Stoffstruktur. Sie sind eindeutig und erlauben auf Grund verschiedener Merkmale Rückschlüsse auf mögliche Gefährdungen. Auf der Basis von Modellen zum Betrachten der Quantitativen Struktur-Wirkungs-Beziehungen (QSAR) lassen sich nützliche Aussagen ableiten. Der Anwendungsbereich der Modelle ist jedoch beschränkt und daher kann auch so nicht jeder Anwendungsfall abgedeckt werden.
Verschiedene Werkzeuge – ein Vorgehen
Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurden verschiedene Werkzeuge zu einem Service verknüpft. Schrittweise entstand so ein Demonstrator, der eine durchgängige Vorgehensweise unterstützt. Ausgangspunkt sind die Vorgaben des Anwenders, in denen er Anforderungen – wie zum Beispiel den Flammpunkt – an die Substitutionsstoffe auf Basis der Rezeptur beschreibt. Dieses vom Anwender angelegte Profil dient als Grundlage für die weiteren Such- und Bewertungsschritte. Anhand der zur Verfügung stehenden Stoffdaten ermittelt die Software in das Profil passende Stoffe. Das Ergebnis kann der Anwender über die zentrale Stoffliste ablesen.
In einem weiteren Schritt werden die gefundenen Stoffe mittels verschiedener Werkzeuge bewertet, um sich einen ersten Überblick über die Eigenschaften der gefundenen Stoffe verschaffen zu können. Stoffe, die eine deutlich höhere Gefährdung zum Beispiel im chronischen Bereich aufweisen, kann der Anwender durch Änderungen des Profils oder durch Aufnahme in eine entsprechende Liste vom weiteren Prozess ausschließen.
Als weiterer Schritt werden die Stoffe mittels QSAR bewertet, hierbei wird die Software ChemProp des UFZ eingesetzt. In der Stoffliste erhält der Anwender am Ende eine Gesamtübersicht der Ergebnisse. Profil, angewandte Methoden und ihre Ergebnisse werden beim Durchlauf nachvollziehbar dokumentiert. Ausgangsstoff und Substitutionsmöglichkeiten werden am Ende für einen Überblick als funktionaler Fingerabdruck in einem Netzdiagramm dargestellt. Als Achsen dienen dabei die fünf Oberpunkte: physikochemische Eigenschaften, Funktion, Humantoxikologie, Ökotoxikologie, Ökonomie. Auf diese Weise erhält der Anwender einen guten Überblick über die Ergebnisse.
Unterstützung mit Einschränkungen
Den entwickelten Demonstrator haben Wissenschaftler mit Hilfe bekannter Ausgangsstoffe – dem Weichmacher Diethylhexylphthalat (DEHP) und dem verbotenen Flammschutzmittel DecaBDE – getestet und die Ergebnisse anhand von Studien und experimentell geprüft. Als Fazit bleibt, dass die entwickelte Softwarelösung eine gute Unterstützung bei der Suche nach möglichen Alternativen für einen Stoff bietet.
Es existieren jedoch auch einige Einschränkungen. Derzeit unterstützt das System vorwiegend den erfahrenen Anwender, der über ausreichend chemische Kenntnisse verfügt. Zielrichtung und Ergebnismenge muss der Anwender selber bereits einschätzen können, damit er ein befriedigendes Ergebnis erhält. Das Werkzeug liefert ihm dann die vergleichende Gegenüberstellung, in einer angemessenen Zeit.
Eine experimentelle Überprüfung der mechanischen Eigenschaften ist im Nachgang unerlässlich, da eine solche Bewertung nicht per Software möglich ist. Neben den ökologischen und sozialen Aspekten sollten für ein wirkliches Betrachten nachhaltiger Lösungen auch ökonomische Vergleiche ermöglicht werden. Dies musste jedoch zurückgestellt werden, da in absehbarer Zeit die hierfür erforderlichen Informationen einfach nicht in der erforderlichen Qualität und Breite verfügbar sein werden.
Verfügbare Werkzeuge
Der Demonstrator wurde im Nachgang zum Projekt auf einen größeren Test vorbereitet und ist daher noch nicht frei verfügbar. Das Werkzeug für die Strukturanalyse ChemProp steht in der aktuellen Version auf der Webseite des UFZ bereit. Die auf den Stoffdaten basierende Suche wird im Rahmen des Gefahrstoffverwaltungs- und -informationssystems (GEVIS) der Fraunhofer-Gesellschaft getestet. Die Tests legen dann fest, wie die weitere Verbreitung des Werkzeugs erfolgen kann.