Prof. Schulz, können Sie das Prognosemodell, welches Sie für die EV Halle entwickelt haben, kurz skizzieren?
Gerne. Vorausschicken möchte ich zunächst noch ein wenig mathematisch-physikalischen Hintergrund: Das Wärmeprognoseprogramm für die EVH ist im Gegensatz zu den häufiger auftretenden Zustandsprognosen eine Prozessprognose. Sie basiert unter anderem auf der kontinuierlichen Messung relevanter Prozessdaten. Das sind beispielsweise die Betriebsdaten der Kraftwerke und Wärmeverteilerstationen, Wetterzustandsmessungen von betriebseigenen Wetterstationen und lokalen Wetterprognosen von Drittanbietern. Sie liefert permanent dynamische Prognosen für den zu erwartenden Wärmeverbrauch und die zukünftigen Betriebsdaten über einen festgelegten Zeitraum. Dieser umfasst je nach Anforderung sechs Stunden bis zehn Tage.
Unsere Prognose berücksichtigt dabei die vollständige hydrodynamische Transportdynamik im gesamten Rohrleitungssystem – dazu gehört insbesondere die Energie-, Entropie- und Strömungsdynamik im kommunalen Fernwärmenetz – sowie die Wirkung der Kraftwerke als Einspeisequellen und der Wärmeübertragungsstationen als Entnahmequellen. Vom mathematischen Standpunkt betrachtet enthält das Prognoseprogramm eine Reihe von Feedback-Algorithmen zur permanenten Fehlerminimierung und zur optimalen Prozesskontrolle. Der Prognosealgorithmus ist selbstlernend, basiert auf evolutionären, manchmal auch als genetisch bezeichneten Methoden sowie rückgekoppelten neuronalen Netzen. Diese wiederum rekonstruieren die optimale Dynamik des Fernwärmenetzes unter vollständiger Berücksichtigung thermo- und hydrodynamischer Bilanzen und Grundgesetze. Die Kombination dieser Verfahren ist relativ neu und bei EVH meines Wissens zum ersten Mal in dieser Tiefe angewendet worden.
Für welche Prognosen ‚ganz generell‘ böte sich ihr Ansatz noch an?
Dies Art der Prognosen kommt für alle Prozesse in Frage, deren Ablauf strikt algebraisierbar ist und bei denen etwaige Messfehler die physikalisch-deterministische Struktur nicht zerstören. Das zuletzt genannte Problem wird dadurch gelöst, dass die eingebauten physikalischen Gesetze und technischen Regeln messtechnisch bedingte Prognoseabweichungen innerhalb kurzer Zeiträume wieder auf die optimale Situation zurücktreiben. So etwas bezeichnet man auch als attraktives Verfahren.
Damit ergeben sich Anwendungsmöglichkeiten für alle Arten von Netzwerken, ganz gleich ob es sich dabei um Fernwärme, Strom, eine chemische Infrastruktur oder Geothermie handelt. Bei Letzterem meine ich vor allem die Tiefengeothermie, bei der ein Heißwasserreservoir durch verschiedene Entnahmestellen ausgebeutet wird. Es lassen sich so jedoch genauso gut virtuelle Ströme wie Geld- und Finanzartikel oder Versicherungswerte prognostizieren. Dabei müssten lediglich die physikalisch-technischen Regeln durch die 'nicht ganz so fundamentalen' finanzmathematischen Gesetze substituiert werden.
Nicht prognostizierbar hingegen sind mit diesem Verfahren langfristige und irreversible Zustandsänderungen wie beispielsweise die Alterung von Maschinen oder die Vorhersage von Maschinenschäden. Ebenfalls damit nicht prognostizierbar sind räumliche Strukturen wie zum Beispiel die Änderung von geologischen Strukturen im Untergrund außerhalb von Probebohrstellen.
Welche 'Daten' werden für Ihr Verfahren konkret benötigt?
Wir benötigen Daten, die kontinuierlich oder zumindest in einem festen Zeittakt verfügbar sein müssen und die das zu prognostizierende System ausreichend beschreiben. In unserem Modell bei der EVH sind das die Vor- und Rücklauftemperaturen sowie die Volumenströme an den Kraftwerken, an den Wärmeübertragungsstationen sowie an weiteren Einspeise- oder Entnahmestellen. Das können beispielsweise Solarfelder und Windenergieanlagen zum Betrieb kommunaler Wärmepumpen sein. Dazu kommen Wetterzustandsmessungen, also Temperatur, Windgeschwindigkeit, Globaleinstrahlung, Luftfeuchte und Luftdruck.
Könnte man dieses Verfahren auch zur Prognose benötigter oder zu erwartender volatiler Energiemengen nutzen, also beispielsweise beim Einsatz regenerativer Energien im Rahmen einer Sektorenkopplung?
Die Prognosen bei EVH beziehen sich auf Wärmeenergie. Und dabei ist es egal welche Energiequellen genutzt werden, also die Gasturbinen im Kraftwerk, Solarfelder, die Wärmepumpen angekoppelter Windenergie oder die im Netz verfügbaren Wärmespeicher. Da die klimatischen Verhältnisse oft recht stark schwanken, sind die benötigten Energiemengen sehr volatil. Das Prognosesystem kann aufgrund der mathematischen Struktur und des relativ hohen Grades an deterministischen Prozessen bei der Wärme- oder Stromerzeugung mit solchen volatilen Größen hinreichend genau umgehen.
In diesem Zusammenhang stellt sich doch die Frage, ob sich damit die bedarfsgetriebene Fahrweise eines Kraftwerks mehr in Richtung einer erlösgetriebenen verändern ließe. Wie war das bei der EVH?
Die Frage eines bedarfsgetriebenen oder gewinnorientierten Prozesses wird immer durch die Art der Nutzung der Produkte entschieden. Die Wärmeenergieerzeugung ist als kommunale Aufgabe wie bei der EVH immer bedarfsorientiert. Aber ihre Kraftwerke können gleichzeitig elektrische Energie erzeugen, die sie über die Strombörse veräußern. Und hier kommt eine Gewinnorientierung ins Spiel. Einerseits ist die Erzeugung elektrischer Energie unmittelbar über den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik an die Wärmeenergieerzeugung gekoppelt. Kennt man also die in dem nächsten Zeitraum erzeugte Wärmemenge über eine gute Prognose, dann kann man der Strombörse eine verlässliche Liefermenge an elektrischer Energie avisieren. Bei der EVH umfasst dieser Zeitraum derzeit etwas mehr als einen Tag. Damit kann man einerseits die aktuellen Stromabnahmepreise optimal einkalkulieren und andererseits empfindliche Vertragsstrafen vermeiden, die bei einer Über- oder Unterschreitung der angekündigten Stromlieferungen drohen.
In gewisser Hinsicht ist auch die Wärmeenergieerzeugung zumindest in Teilen gewinnorientiert. Das betrifft beispielsweise den Einkauf von Rohstoffen, was in Halle derzeit Erdgas ist und in Zukunft grüner Wasserstoff sein wird. Ebenso lässt sich die Auf- und Entladung der Wärmespeicher optimieren sowie Sonne und Wind bei geeigneten Wetterbedingungen besser nutzen. Und last but not least: Auch über eine bestmöglich gestaltete Prozesssteuerung lassen sich höhere Erträge erwirtschaften.
Wie lassen sich ihre Prognosen zur Optimierung einer Prozesssteuerung einsetzen?
Klassische Prognosen gehören zu den Open-Loop-Methoden. Die Ergebnisse haben keinen Einfluss auf den Prozess, sondern nur auf nachgeschaltete Ereignisse. So beeinflusst eine Wetterprognose nicht den meteorologischen Ablauf, wohl aber die Landwirtschaft, die Schifffahrt oder die Urlaubsplanung. Bei EVH war es ähnlich. Die Prognosen sollten primär für den Handel an der Strombörse genutzt werden, was keinen erkennbaren Einfluss auf den Prozess der Wärmeerzeugung hat. Der Wunsch der EVH, die Prognosen auch zur optimalen Betriebsführung zu nutzen, erforderte eine Umstellung des Algorithmus zu einer Closed-Loop-Methode. Nutzt man nämlich Prognosen für einen Prozess zur Steuerung des gleichen Prozesses, kann es dazu kommen, dass nie ganz vermeidbare Abweichungen der Prognosen von den tatsächlich eintretenden Betriebsparametern zu ungewollten Änderungen der Betriebsparameter für den nachfolgenden Zeitbereich führen. Unter Umständen schaukelt sich dann der Fehler immer weiter auf. Deshalb ist eine passende Rückkopplung der Prognose an den Prozess notwendig.
So etwas wird in der Kontrolltheorie als Feedbackterm bezeichnet. Erst mit der Bestimmung und der Einkopplung dieses Terms in den bisherigen Algorithmus wurde unser Verfahren zu einem Prognosesystem, das auch zur Steuerung des Wärmeprozesses nutzbar ist – und dafür auch genutzt wird. Jede Steuerung oder Kontrolle bedingt übrigens genau ein Kontrollziel, ohne dass der Feedbackterm nicht konstruiert werden kann. In der Tat wurde das Kontrollziel hierarchisch aufgebaut, so dass primär ein bedarfsgetriebener Prozess verfolgt wird, innerhalb der dann noch verfügbaren Freiheitsgrade eine Gewinnorientierung angestrebt wird.
Wie geht das System der EVH mit kurzfristigen ‚Änderungen‘ um, also beispielsweise manuelle Eingriffe oder Preisänderungen am Spotmarkt?
Diese Frage enthält mehrere Aspekte. Kurzfristige manuelle Eingriffe in die Betriebsführung, etwa bei Reparaturen, werden auf Grund dessen, dass der Algorithmus eine Closed-Loop-Struktur besitzt, schnell erkannt. Diese werden bereits ab der nächsten Prognose berücksichtigt. Im kürzesten momentan realisierten Fall geschieht dies bereits nach 15 Minuten. Bis zur vollen Erfassung dieser Manipulation vergehen, bedingt durch die Trägheit des Systems, einige Stunden. Die Ursache für diese Verzögerung ist darin zu finden, dass das Heißwasser im Primärkreislauf bis zu acht Stunden benötigt, bis es wieder im abgekühlten Zustand im Kraftwerk anlangt und auf dieses im Netz befindliche Heißwasser nur noch bedingt Einfluss ausgeübt werden kann. Dieser zusätzliche Fehler bleibt jedoch trotzdem marginal.
Ein Spotmarkt für Wärmeenergie verbietet sich in der Regel für kommunale Anbieter. Für Elektroenergie wird seitens EVH stets ein mittelfristiger Handel über vor der Lieferung ausgehandelte Preise getätigt. Allerdings könnte mit einer Kurzzeitprognose über einen Horizont von etwa fünf Minuten und aufwärts auch ein Handel am Spotmarkt möglich sein. Dann würde man jedoch andere Einstellungen des integrierten Feedbackterms benötigen. Der sparsame Umgang mit Ressourcen hingegen ist Teil des Feedbackalgorithmus. Das fällt also ebenfalls in den Bereich der Steuerung auf Basis des
Prognosealgorithmus.
Wie ging EVH mit den geopolitischen Verwerfungen, Stichwort: Gaskrise 2022, um? Diese ändern ja nicht nur die Verfügbarkeit von Rohstoffen, sondern auch das Verbraucherverhalten. Kann man dann die Modelle neu kalibrieren?
Die schnelle Änderung des privaten, kommerziellen und kommunalen Heizverhaltens aufgrund des teilweisen Ausfalls der Erdgaslieferungen ab Frühjahr 2022 und damit der erheblich gestiegenen Preise dafür machte eine Verbesserung des zugehörigen Lernalgorithmus notwendig. In Zukunft wird das veränderte Heizverhalten regional, konkret nach den etwa 50 Versorgungsbereichen des Stadtgebietes Halle, ausgewertet. Dementsprechend werden dann die erlernten Parameter zur Beschreibung der Wärmeabnahme korrigiert. Das erfolgt derzeit noch manuell, etwa ein- bis zweimal im Jahr, soll aber zukünftig automatisch realisiert werden.