Ob Neutralisationen, Hydrierungen oder Kunststoff-Polymerisation - exotherme Reaktionen sind die Herstellungsgrundlage vieler Produkte. Doch durch die freiwerdende Energie bergen sie ein höheres Risiko als andere Umsetzungen. Fällt das Kühlmedium aus, wird eine falsche Rezeptur oder ein falscher Katalysator nicht rechtzeitig bemerkt, kann die zuvor sichere Reaktion unkontrollierbar werden. Um den Reaktor zu entlasten und mögliche Gefahren abzuwenden, sind Anlagen, die bei Störungen kritische Drücke erreichen können, mit Blow-Down-System ausgestattet.
Es besteht normalerweise aus Sicherheitsventil oder Berstscheibe, über die entstehenden Gase und Flüssigkeiten in eine Abblaseleitung und von dort in einen Catch-Tank gelangen. "Die Auslegung eines solchen Systems ist komplex, denn es müssen die zeitlichen Verläufe der relevanten Größen für möglichst viele relevante Punkte innerhalb des Systems berechnet werden", erklärt Dr. Moritz Wendt aus dem Engineering von InfraServ Knapsack. Der industrielle Dienstleister befasst sich in seinem Anlagenplanungsbereich unter anderem intensiv mit Simulationen und dynamischen Berechnungsmethoden.
Viele Faktoren sind im Spiel
Zu Beginn des Entlastungsvorgangs tritt häufig ein zweiphasiges Gemisch aus Dampf und Flüssigkeit aus. Es kommt zunächst zu einem Druck- und Temperaturanstieg in der Ausblaseleitung und im Catch-Tank. Gleichzeitig geht die Energiefreisetzung im Reaktor weiter, oftmals zu Anfang sogar stärker als die Ener-gieabfuhr. Beim folgenden Druckabbau im Reaktor ändern sich auch Temperatur, Dichte und Geschwindigkeit des Gemisches in der Rohrleitung. Druckverlust, zeitlicher Druckaufbau im Catch-Tank und entstehendes Druckgefälle beeinflussen dann den Massenstrom im System und damit die Entleerungszeit. Im Lauf der Entspannungsreaktion verändern sich also an jedem Ort des Systems die zu berechnenden Werte, zudem beeinflussen sie sich gegenseitig. Um exakte Daten über das System zu erhalten, ist daher eine simultane Betrachtung aller Apparate und Prozesseinheiten und damit eine detaillierte dynamische Berechnung des Entlastungsvorgangs notwendig.
Dabei stellen sich mehrere Herausforderungen: So muss zunächst eine dynamische Modellgleichung für jede Einheit separat aufgestellt werden. Dabei sind algebraische und Differentialgleichungen nötig. Der Rohrleitungsverlauf verlangt zudem partielle Differentialgleichungen. Dann gilt es, die Berechnungs-Software so zu programmieren, dass in einem bestimmten Zeitschritt alle Gleichungen simultan gelöst werden können. Denn durch die mathematische Verknüpfung der Differentialgleichungen können die Experten die zeitlichen Verläufe der charakteristischen Größen detailliert wiedergeben. "Wir haben damit eine allgemeingültige Methodik entwickelt, um den Entlastungsvorgang in einem Blow-Down-System dynamisch zu berechnen", so Wendt. "Dabei betrachten wir immer einen Zeitschritt und berechnen alle gekoppelten Effekte durch Iteration, bevor es zum nächsten Zeitschritt geht. So erhalten wir etwa Stück für Stück die Druckverlaufskurve." Im Rahmen des Berechnungsvorgangs arbeiten die Simulationsexperten immer wieder mit Studien, in denen die Auslegung von Leitung und Catch-Tank variiert werden, bis die Kurvenverläufe den Anforderungen entsprechen.
Diese Methodik der dynamischen Berechnung ermöglicht eine fundierte Entscheidungshilfe bei der punktgenauen Dimensionierung von Leitung und Catch-Tank, aber auch bei der Entwicklung weiterer Maßnahmen, um bestehende Systeme an neue Anforderungen anzupassen. Wendt: "Die Simulation gibt uns Antworten auf das Warum. Dieses Warum zu klären, steht bei laufenden Anlagen oft nicht im Vordergrund, ist aber im Ereignismanagement oder bei Veränderungen im Prozess wichtig." Auf Basis der berechneten Daten lassen sich die Eignung bestehender Apparate und Prozesseinheiten für neue Verfahren bestätigen, aber auch notwendige Maßnahmen schneller und genauer ableiten.
Berechnung noch konservativ
In der chemischen Industrie ist die dynamische Berechnung von Blow-Down-Systemen noch nicht verbreitet. Sie werden im Laborversuch nachgestellt oder über fundierte Erfahrungswerte angenähert. Zwar gibt es auch etablierte Berechnungsmethoden; mit den meisten wird aber der erforderliche Massenstrom aus dem Druckbehälter heraus bestimmt und auf dieser Basis Ausblaseleitung und Catch-Tank konservativ ausgelegt.
"Ein solches Vorgehen ist bei relativ konstanter Energiezufuhr angebracht, zum Beispiel bei einem Umgebungsbrand", sagt Wendt. "Bei einer unkon-trollierbaren Reaktion im Druckbehälter sind mit dynamischen Berechnungen deutlich genauere Aussagen möglich. Das sind Aussagen, mit denen Betreiber auch für zukünftige Veränderungen an der Anlage besser gerüstet sind."