Fast 45 Prozent des weltweiten Ressourcenverbrauchs entfallen auf die Bauindustrie. Sie ist zudem einer der größten Verursacher von Treibhausgasen wie CO2. Diese entstehen nicht nur durch Heizen oder Kühlen der Gebäude, sondern auch bei der Herstellung von Baumaterialien, bei ihrem Transport zur Baustelle und beim Bau der Gebäude selbst. Der Anteil dieser „grauen Emissionen“ am globalen Treibhausgasausstoß steigt kontinuierlich. Er ist ein Grund dafür, dass Länder wie Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens im Bausektor regelmäßig verfehlen. Zugleich stecken in Gebäuden enorme Mengen an Materialien, die beim Abriss als Bauabfall anfallen. In Deutschland waren das 2022 über 200 Millionen t, mehr als die Hälfte des gesamten Abfallaufkommens!
„Wenn es gelänge, Baustoffe länger zu nutzen und nach dem Abriss von Gebäuden zu recyceln, wenn wir also zirkulär bauen würden, dann könnte die Bauindustrie einen erheblichen Beitrag dazu leisten, den durch sie verursachten Klimawandel zu begrenzen, Ressourcen zu schonen und Umweltverschmutzung zu reduzieren“, erläutert Georg Schiller, Leiter der Forschungsgruppe „Anthropogene und Natürliche Ressourcen“ am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung. Doch dafür fehlten bisher essenzielle Grundlagen, etwa genaue Informationen darüber, welche Materialien in Gebäuden verbaut sind, in welchen Mengen sie vorkommen und wie sie sich im Gebäudebestand verteilen.
Materialkataster Deutschland schließt Informationslücke
Mit dem IÖR-Materialkataster Deutschland stellt das Institut nun erstmals diese zentrale Datenbasis bereit – flächendeckend für jede Gemeinde in Deutschland. Die Berechnungen für 2022 zeigen: In den 51,6 Millionen Gebäuden, die es in Deutschland gibt, stecken rund 20,8 Milliarden t Baustoffe. Mit einem Anteil von 46 Prozent ist Beton der dominierende Baustoff in diesem „Materiallager“, gefolgt von Kalksandstein und Ziegeln mit jeweils knapp 10 Prozent. Der Anteil nachwachsender Baumaterialien wie Holz, Schilf oder Stroh beträgt nur etwa ein Prozent der Gesamtmasse. Auch Aussagen zur Höhe der Treibhausgase, welche bei der Herstellung der Baumaterialien entstehen, lassen sich treffen. Hochgerechnet auf den gesamten Gebäudebestand von Deutschland im Jahr 2022 stecken etwa 2,86 Milliarden t CO2-Äquivalent in den verbauten Materialien – so viel wie Deutschland insgesamt in vier Jahren emittiert.
In Verbindung mit Informationen zum regionalen Abriss- und Neubaugeschehen in Kommunen macht das Materialkataster abschätzbar, welches Material beim Abriss von Beständen für ein Recycling zur Verfügung steht und welcher Materialbedarf für den Neubau und die Sanierung damit gedeckt werden könnte. Auch die Mengen zu erwartender Bauabfälle lassen sich mit Hilfe des Materialkatasters ermitteln.
Vom Gebäudetyp zu Baustoffart und -menge
Die Grundlage für den Aufbau des Materialkatasters bilden 3D-Gebäudemodelle des gesamten deutschen Bauwerksbestandes, wie sie das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) zur Verfügung stellt. Diese Modelle werden mit Informationen und Daten angereichert. Unter anderem werden die Gebäude entsprechende ihrer Funktion typisiert. So lassen sich etwa Wohn- und Nichtwohngebäude sowie weitere Unterkategorien ausdifferenzieren. „Am Ende ergibt sich ein detailliertes Bild für den deutschen Gebäudebestand. Durch die Verwendung der 3D-Gebäudemodelle kennen wir das Bauwerksvolumen und können jedem Gebäude einen bestimmten Typ – Wohngebäude oder Fabrikhalle, Eigenheim oder Mehrfamilienhaus – zuordnen. Daraus ergibt sich wiederum, welche Materialien in einem Haus in welcher Menge verbaut sind“, erläutert Reinhard Schinke, der maßgeblich an der Erstellung des nationalen Materialkatasters mitgewirkt hat.
Denn den einzelnen Gebäudetypen können Materialkennzahlen zugeordnet werden. Diese typenbezogenen Materialkennzahlen sind ein Ergebnis langjähriger Forschungsarbeiten am IÖR. „Wir haben dafür die für eine Gebäudeart, zum Beispiel ein Fabrikgebäude, typische Baukonstruktion analysiert. Vom Fundament über die Wände bis hin zu Decken und Dächern – für jedes Bauteil werden die üblicherweise eingesetzten Materialien und Materialmengen ermittelt. Dabei unterscheiden wir insgesamt 44 Baumaterialgruppen“, erläutert Georg Schiller. Je nach Gebäudetyp kommen mal mehr Beton wie bei Werkhalle oder Bürohochhaus oder mehr Ziegel und Holz wie bei Wohnhäusern zum Einsatz. Diese typische Zusammensetzung von unterschiedlichen Gebäuden spiegeln die entwickelten Materialkennzahlen wider. Sie sind über das „Informationssystem Gebaute Umwelt (ISBE)“ des IÖR abrufbar – und sie bilden eine entscheidende Basis für die Aussagekraft des nationalen Materiakatasters. Das Materialkataster selbst, das Geodaten mit Materialkennzahlen verknüpft, steht als Datensatz im Datenrepositorium „ioerDATA“ zur Verfügung.
Relevanz für Strategien zum zirkulären Bauen
Das IÖR-Materialkataster Deutschland basiert in seiner aktuellen Form auf gebäudescharf durchgeführten Analysen. Damit sind die bereitgestellten Informationen sehr wertvoll, da sie Richtwerte für typische Baumaterialzusammensetzungen vergleichbarer Gebäude liefern. Das biete schon jetzt – vor allem auf strategischer Ebene – Potenziale für den Ausbau regionaler Materialkreisläufe bei der Planung zirkulärer Städte.
„In Kombination mit Informationen zum Abriss- und Baugeschehen ließe sich zum Beispiel für Kommunen realitätsnah prüfen, welchen Beitrag das Recycling von Betonbruch zur Deckung des lokalen Rohstoffbedarfs leisten kann und welche Möglichkeiten der sinnvollen Ausrichtung kommunalpolitischer Steuerungsinstrumente hieraus resultieren“, beschreibt Georg Schiller eine beispielhafte Anwendung der Informationen aus dem Materialkataster.
Grundsätzlich biete das „Materialkataster Deutschland“ Basisinformationen für vielfältige Planungsaufgaben rund um eine effiziente Bewirtschaftung des vorhandenen Materiallagers im Bauwerksbestand und senke damit Kosten der Datenbeschaffung. Die Konstruktionsweise einzelner Gebäude bleibt dabei notwendigerweise unscharf. „Der typenbasierte Ansatz vernachlässigt individuelle Besonderheiten. Auf der Gebäudeebene können daher keine exakten Angaben zur tatsächlichen Materialzusammensetzung eines konkreten Bauwerks gemacht werden“, erläutert Schiller.
Die Daten können von Kommunen, Architekturbüros sowie Haltern größerer Bauwerkbestände ebenso aufgegriffen werden wie von Beratungsunternehmen und Start-ups auf dem Gebiet des zirkulären Bauens. Sie können die Informationen direkt nutzen oder mit eigenen, detaillierteren Daten anreichern, um daraus Geschäftsmodelle abzuleiten, etwa die Entwicklung von Gebäudepässen oder die Erstellung nachhaltiger Rückbau- und Wiederverwendungskonzepte im Rahmen sogenannter „Pre-Demolition-Audits“. Auch für Recyclingunternehmen sind die Daten von Interesse, da sie helfen, künftig anfallendes Abbruchmaterial besser abzuschätzen und auf dieser Basis Geschäftsmodelle aufzubauen.
Datenbasis verfeinern, Methoden weiterentwickeln
„Die Forschung zu den Grundlagen für das Materialkataster Deutschland beschäftigt uns am IÖR bereits seit deutlich mehr als zehn Jahren und sie ist auch noch lange nicht abgeschlossen“, erläutert Georg Schiller. Auch weiterhin werde daran gearbeitet, die Methoden weiterzuentwickeln und Daten zu verfeinern, um das Spektrum der Anwendungen zu erweitern. „Mehr Genauigkeit würde zum Beispiel die weitere Ausdifferenzierung der Gebäude, etwa durch Berücksichtigung ihres Baualters bringen. Denn ein Mehrfamilienhaus aus der Gründerzeit besteht aus deutlich anderen Baumaterialien als eines, das nach Kriegsende in den 1950er Jahren errichtet wurde. Auch eine Einschätzung von Schadstoffrisiken könnte hieran anknüpfen“, so der Wissenschaftler.
Wie bei der bisherigen Forschung arbeitet das IÖR auch weiterhin mit vielfältigen Akteuren des zirkulären Bauens in Planungsbüros, in Behörden und in der Industrie zusammen, an die sich die Daten richten.