Kundennähe und Lösungsorientierung sind gern genutzte Begriffe in den Marketingabteilungen. Haben Kunden dann tatsächlich einen Bedarf, der mit Standardlösungen nicht realisiert werden kann, trennt sich jedoch schnell die Spreu vom Weizen. Obwohl Sonderlösungen mit erhöhtem Aufwand einhergehen, können sie sich für Hersteller ebenso auszahlen wie für Kunden. Einen Beleg dafür liefert ein Projekt von Yokogawa und Turck: Gemeinsam mit einem Kunden haben die Unternehmen eine redundante Anbindung des Remote-I/O-Systems excom von Turck an das Prozessleitsystem (PLS) Yokogawa Centum VP entwickelt. Das in die Jahre gekommene PLS konnte den modernen Anforderungen - etwa in Bezug auf Schnittstellen wie Profibus oder OPC - nicht mehr gerecht werden. Als die Revision der Anlage anstand, entschied man daher, den Stillstand zu nutzen und das bestehende Leitsystem zu ersetzen. Für die Anbindung der Feldgeräte in Ex-Zone 1 sollte das bereits in anderen Anlagenbereichen installierte Remote-I/O-System excom eingesetzt werden. Der Kunde hatte sich seinerzeit für dieses entschieden, weil es die einzige Remote-I/O-Lösung am Markt war, die sich mit 230 Volt in der Ex-Zone 1 betreiben lässt. Alternative 24-Volt-Lösungen erfordern aufgrund der oft langen Leitungswege zur Anlage große Querschnitte, um Spannungsabfälle kompensieren zu können. Das für die Anbindung des neuen Leitsystems verantwortliche Team erstellte ein klar umrissenes Anforderungsprofil. Gewünscht war eine redundante Profibus-Verbindung zu den Remote-I/Os, die sich im laufenden Betrieb sowohl kartenweise als auch stationsweise erweitern lassen müssen. Fachleute kennen die Funktion Online-Erweiterbarkeit unter der Bezeichnung „Hot Configuration in Run“ (HCIR). „In der Profibus-Nutzerorganisation war dieser Standard zum Zeitpunkt der Installation noch nicht beschrieben. Insofern mussten Lösungen zwischen Leitsystem- und I/O-System-Anbieter individuell entwickelt werden“, sagt Holger Schneider, Vertriebsmitarbeiter bei Yokogawa. Nach ersten Gesprächen zwischen dem Kunden, Yokogawa und Turck war klar: Im Alleingang konnte keines der beteiligten Automatisierungsunternehmen die Anforderungen erfüllen, sodass beide in enger Abstimmung miteinander 2009 eine Konfiguration für ihre Geräte entwickelten, die Redundanz und Online-Erweiterbarkeit voll unterstützt.Produktspezialisten beider Unternehmen passten die Software des Leitsystems Centum VP und die excom-Firmware entsprechend an. Das Zusammenspiel der adaptierten Systeme wurde nach internen Tests 2010 erstmals direkt beim Kunden vor Ort auf den Prüfstand gestellt. Die Prozessleittechniker bereiteten eine Testumgebung vor, in der ein unabhängiges System ein Signal generiert, das über die excom-Station via Profibus zum Yokogawa-System gelangt. Dort wird es durch einen Softwarebaustein erfasst, visualisiert, in einem Trend gespeichert und wieder über die excom-Station als Ausgangssignal zurückgeschickt. Über die Trendfunktion des unabhängigen Systems kann so der gesendete Wert in Echtzeit mit dem empfangenen Wert verglichen werden. Durch diesen Testaufbau war es möglich, Sägezahn- (langsam an- und abfallende Analogsignale) und Rechtecksignale (digitale Ein- und Ausschaltsignale) während eines HCIR-Vorgangs zu überwachen.
Der Versuchsaufbau und das alternierende Signal erlaubten den tieferen Einblick in das Zusammenspiel von Leitsystem und Remote-I/O. „Man muss die geänderte Buskonfiguration laden, um neue Teilnehmer oder zusätzliche Karten am Bus einbinden zu können. Während des Ladens wird der Bus für circa zwei Sekunden initialisiert. Dabei koppeln sich alle Teilnehmer kurzzeitig ab. Dieses Verhalten müssen die Teilnehmer von einem Kabelbruch unterscheiden können. Wird solch eine Situation erkannt, werden alle Ein- und Ausgänge des Systems für diesen Moment gehalten. Für die Anlage ist der Vorgang damit rückwirkungsfrei“, erklärt Schneider die Herausforderung beim Stecken eines neuen Moduls.
Abkopplung von Kabelbruch unterscheiden
Der erste Test vor Ort dämpfte zunächst die Hoffnung auf eine frühzeitige Lösung der Aufgabe, denn dem Team war ein unerwünschtes Verhalten aufgefallen: Beim Hinzufügen eines neuen Moduls hielt das Leitsystem nicht wie gewünscht den letzten bekannten Prozesswert. Die Techniker beobachteten stattdessen ein kurzeitiges Abfallen des Signalwerts. Im laufenden Betrieb der Anlage hätte diese Signalveränderung den Produktionsablauf beeinflussen oder sogar einen Anlagenausfall erzeugen können. Die Spezialisten von Turck und Yokogawa passten daraufhin die Firmware erneut an und konnten letztlich die Systeme so fein abstimmen, dass weitere Testläufe vor Ort und bei Turck in Mülheim schließlich alle Projektteilnehmer zufriedenstellten. Nach der insgesamt 15-monatigen Test- und Implementierungsphase hat sich der Einsatz für alle Beteiligten gelohnt: So profitiert der Kunde heute von einer Lösung, die mit der geforderten Funktionalität am Markt nicht verfügbar war. Yokogawa und Turck haben das Funktionsspektrum ihrer Geräte erweitert und damit einen Mehrwehrt über die konkrete Applikation hinaus geschaffen. Dazu trug nicht nur die Fach- und Produktkenntnis der Mitarbeiter bei. „Durch die reibungslose und konstruktive Zusammenarbeit der Spezialisten vor Ort mit den Applikationsingenieuren von Turck und Yokogawa konnten alle Beteiligten zeitnah eine optimale Lösung für den Kunden erarbeiten“, sagt Yokogawa-Vertriebsspezialist Schneider: „Die Chemie hat hier gestimmt.“
Sonderlösung wird zum „Tokushu“
Heute steht mit einem so genannten Tokushu - Yokogawa benennt so Software-Sonderlösungen, die zu Standardprodukten gereift sind - für Centum VP eine offizielle Software-Variante für das Leitsystem bereit, mit der Yokogawa-Kunden ihr PLS zusammen mit excom redundant und HCIR-fähig betreiben können. Auch bei Turck wurde die angepasste Firmware inzwischen zum Standard beim Remote-I/O-System excom geworden. Redundante Kommunikation und Online-Erweiterbarkeit über ProfibusDP sind jetzt zwischen Centum VP und excom problemlos möglich.