Leittechnik Virtuell zu reellen Vorteilen

Durch Virtualisierung lässt sich eine typische Simatic-PCS-7-Konfiguration kompakt realisieren.

22.03.2013

Wie baut man eine Prozessanlage in virtueller Umgebung? Vor allem aber: Warum sollte man das tun? Die Möglichkeiten einer Virtualisierungslösung, umgesetzt mittels eines Prozessleitsystems, reichen von Ersparnissen in der Ersatzteilhaltung bei validierten Anlagen bis zu optimiertem Betrieb weit verteilter Produktionsstätten, etwa in der Wasserwirtschaft - handfeste, durchaus reelle Betriebskosteneinsparungen also.

Im Boxring verteilen wir Veilchen. Auf der Rennstrecke sind wir rasant unterwegs. Wir bewirtschaften Bauernhöfe, bauen Städte, errichten Weltkonzerne - und das alles dank leistungsfähiger IT-Technik ziemlich wirklichkeitsgetreu: in virtuellen Welten. Auch in die industrielle Automatisierung hat die Virtualisierung Einzug gehalten. Dort jedoch ist sie alles andere als ein Spiel. Meist führt eine konkrete Problemstellung aus der höchst reellen Welt der Produktion dazu, sich mit den Möglichkeiten der Virtualisierung zu beschäftigen. Um zu entscheiden, ob ihr Einsatz tatsächlich angebracht ist, müssen zahlreiche Aspekte einbezogen werden.Der Begriff Virtualisierung beschreibt ursprünglich die Emulation, also die Nachahmung von Hardware, Betriebssystem, Datenspeicher oder Netzwerken. So lassen sich zum Beispiel Ressourcen von Computern sinnvoll aufteilen, übersichtlich zusammenfassen oder es können virtuelle Betriebssysteme innerhalb eines gastgebenden Betriebssystems ausgeführt werden. Nicht nur Administration, Platz und Service lassen sich damit optimieren; man kann so auch Ressourcen wie CPU-Leistung und Speicherplatz effizienter nutzen und so Kosten reduzieren. Die IT-Welt dringt immer stärker in die Domäne der industriellen Automatisierung ein - mit dem Ziel, den Nutzen und insbesondere die Kosteneinsparungen auch in die Produktionswelt zu transferieren. Betreiber von Produktionsanlagen stehen unter einem besonders hohen Kostendruck und fordern geringe Investitionskosten, schnelle Inbetriebnahme sowie einen optimalen Betrieb ohne Produktionsausfälle. Eine Virtualisierungslösung beginnt zunächst mit einem höheren IT-Investitionsbedarf für Hostsysteme, Virtualisierungssoftware, Wartungsverträge, eventuell auch für Kühlung, Klimatisierung und Lärmschutz der Hochleistungshostsysteme. Diese Investition rechnet sich in den meisten Fällen über den Lebenszyklus der Anlage. Unternehmen, die Virtualisierungslösungen umsetzen, haben typischerweise dedizierte IT-Abteilungen mit gut ausgebildeten Spezialisten. Darüber hinaus werden auch spezielle Prozessautomatisierungskenntnisse benötigt. Denn nicht alle in der IT-Welt verbreiteten Funktionen, wie Verschieben von Applikationen im laufenden Betrieb zwecks Lastverteilung (vMotion) oder das Pausieren eines Clients beziehungsweise Servers (Suspend), können ohne weiteres auf Produktionsbetriebe übertragen werden. Auch sind bestimmte Aspekte der Verfügbarkeit zu beachten, wenn hochverfügbare Server in einer virtuellen Umgebung betrieben werden sollen. Um Single-Points-of-Failures zu vermeiden, sollten redundante Server auf unterschiedliche Hostsysteme verteilt werden.

Wann rechnet sich die Virtualisierung?

Die Frage, ab wann Virtualisierung sinnvoll oder wirtschaftlich ist, kann nicht pauschal beantwortet werden. Die Antwort hängt von den besonderen Anforderungen des Projekts ab. Aspekte sind zum Beispiel Platzbedarf, Remote-Zugang, Energieeinsparung, Validierung, Verteilung einer Anlage, aber auch vorhandene Infrastruktur oder der Betrieb anderer Anwendungen in virtueller Umgebung wie etwa Auswertetools sowie Informations- und Report-Systeme. Mit Simatic PCS 7 sind folgende Virtualisierungslösungen möglich:

Freigegebene Funktionen: Operator Station (OS)-, Batch-, RouteControl-Clients sowie eine Vielzahl von Optionen wie etwa Visualisierung von Ablaufsteuerungen, PCS7-Web-Server, OpenPCS 7/OS Client, PCS7-Terminalserver; projektspezifische Freigaben: alle Server (OS, Batch, RouteControl) Engineering-System, OS Single-Station; weitere Funktionen wurden bereits prototypisch in einer virtuellen Umgebung erfolgreich betrieben.

Als Bedienplätze, sprich Frontend-PCs, dienen Thin-Clients oder Zero-Clients, die über Remote-Protokolle wie etwa VNC oder VMware View angebunden sind. Hier findet der Operator seine gewohnte Bedienumgebung wieder. Für die Umsetzung der Virtualisierungslösung werden am Markt etablierte Systeme empfohlen, mit denen zum Teil entsprechende Simatic-PCS-7-Tests durchgeführt wurden:

  • Hostsystem wie Industry-PC-Rack-Systeme von Siemens; Rack-Systeme von Fujitsu, Dell oder Blade-Systeme von HP, Fujitsu, Dell;

  • Hypervisor (virtuelle Umgebung), etwa vSphere oder vSphere Hypervisor (ESXi) von VMware

Auch im Umfeld der Virtualisierung spielt IT-Security eine wichtige Rolle. Es gelten die gleichen Mechanismen und Methoden wie in der reellen Umgebung, wie zum Beispiel Security-Patches, Viren-Scanner, User-Management oder Zugangsschutz zum System. Zusätzlich kommt eine weitere Ebene - der Hypervisor-Layer (etwa vSphere Hypervisor von VMware) - hinzu, in der ebenfalls entsprechende Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen sind. Branchen wie Nahrungs- & Genussmittel-, Pharma-, Chemieindustrie oder Wasserwirtschaft nutzen bereits Virtualisierungen. Die Pharmabranche zum Beispiel wird durch ihre Produktvielfalt und häufige Produktwechsel, die eine starke Verzahnung von IT-Welt und Produktion erfordern, getrieben.

Reserverechner in validiertem Prozess sparen

Ein besonderer Aspekt ist hier die Validierung: Wurden früher einige Rechner als Ersatzteile für eine validierte Anlage bereits bei der Erstinvestition angeschafft, können heute diese Kosten sowie jene für den entsprechenden Lagerraum durch Virtualisierung eingespart werden. Die Besonderheiten:

  • Server (für OS und Batch), die real mit separaten Serverpaaren aufgebaut wären, sind hier aus Gründen der Verfügbarkeit auf zwei getrennte Hostsysteme verteilt

  • Zugriff aus der virtualisierten Bürowelt auf virtualisierte Langzeitarchive und Reportingsysteme

  • reduzierter Administrationsaufwand durch konsequente Fortführung der IT-Infrastruktur bezüglich Virtualisierung vom Büro bis in die Produktionsanlage

Auch in der Wasserwirtschaft bringt Virtualisierung häufig Vorteile, besonders beim Betrieb der Anlagen durch Kommunen, wo ein hoher Kostendruck herrscht. Zudem kommt hier der Gesichtspunkt der ausgeprägten Anlagenverteilung hinzu, sowohl flächenmäßig als auch hierarchisch durch Fernzugriff von Gebiets- und Bezirkszentralen auf zentrale Wasserwerke. Hier liegen die Besonderheiten unter anderem in der Konsolidierung der kompletten Leitsystem-Serverinfrastruktur in einem Rechenzentrum und dem flexiblen Zugriff von bis zu 50 Web-Clients auf einen virtualisierten Web-Server. Zudem kann der Anlagenbetrieb durch Umsetzung des PCS 7-Bedienerkonzepts optimiert werden, indem Zugriffsberechtigungen zwischen Clients in der Hauptwarte, in übergeordneten Gebiets- und Bezirkszentralen und Vorort-Panels vergeben werden. Weitere Besonderheiten sind das Zusammenspiel zwischen Clients in der Leitwarte (virtuelle Welt) und Vorort-Panels (reale Welt) sowie mögliche Kosteneinsparungen durch die Nutzung der IT-Infrastruktur des Rechenzentrums. Der Aspekt des Fernzugriffs kommt auch bei „unbemannten“ Luftzerlegeranlagen in der Chemieindustrie, die von einer zentralen Warte aus per Remote-Zugriff überwacht und gefahren werden, zum Tragen. Einzelne Anlagen können in virtueller Umgebung kompakt, kostengünstig und energiesparend aufgebaut werden. Zudem ist die sichere Überwachung vieler Anlagen vom zentralen Remote-Operation-Center (ROC) per Remote-Protokoll auf die Anlagen möglich. Leitsystemfunktionen sind auch vor Ort etwa bei lokalen Arbeiten verfügbar. Virtualisierung ist eine innovative Technologie, um Anwenderanforderungen in modernen Leitsystemstrukturen umzusetzen. Sie ist aber kein Allheilmittel und nicht generell sinnvoll einsetzbar. Wichtige Voraussetzungen für den Betrieb eines Prozessleitsystems in virtueller Umgebung sind eine gute IT-Infrastruktur und gut geschultes Personal. Das bedeutet zwar am Anfang einen erhöhten Investitionsaufwand, der kurzfristig nur projektspezifischen Nutzen bringt. Langfristig gesehen werden sich jedoch in zahlreichen Fällen die Investitionen über den Lebenszyklus der Anlage durch reduzierte Betriebskosten auszahlen. Die Mechanismen der reellen Welt müssen mit Bedacht auf die virtuelle Umgebung übertragen werden, denn im Hintergrund steht eine reelle Anlage mit einem reellen Verhalten. Kurzum: Die Antwort auf die Frage lautet heute nicht „reell oder virtuell“, sondern „reell und virtuell“.

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