Anna Gampenrieder, Energy 4.0:
In den kommenden zehn Jahren müssen mehr als die Hälfte der energieintensiven Anlagen in der Stahl- und Chemieindustrie erneuert werden. Viele Unternehmen sitzen in den Startlöchern und würden gerne in emissionsarme oder sogar -freie Anlagen investieren. Allerdings sind die Rahmenbedingungen nicht in der Form gegeben, dass sich diese klimafreundlichen Technologien rechnen. Sogenannte Log-in-Effekte drohen.
Deshalb an Sie, Herr Graichen, die Frage:
Bremst die Politik gerade die Grundstoffindustrie aus?
Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende: „Wer heute Stahl, Kunststoff oder Zement produziert, steht vor einer großen Herausforderung: Die CO2-Emissionen der Werke müssen bis 2030 um ein Viertel, bis 2050 auf nahe null sinken – das nämlich bedeutet das Ziel der Klimaneutralität. Vielen Verantwortlichen in der Grundstoffindustrie ist dies klar: Sie müssen klimafreundlich werden, wenn sie ihre gesellschaftliche Licence to Operate erhalten wollen, wie ich aus zahlreichen Gesprächen weiß.
Nur: Sie stehen zwischen Baum und Borke. Denn um Stahl, Chemie und Zement klimafreundlich herzustellen, sind Sprunginnovationen erforderlich, wie etwa in der Stahlindustrie der Wechsel von der Kokskohlen-Hochofen-Route zur wasserstoffbasierten Direktreduktion. Diese neuen Technologien sind aber teurer als die herkömmlichen, also dementsprechend noch nicht wettbewerbsfähig. Ein Investment in die alten Technologien wäre aber genauso falsch – denn das sind spätestens 2050 dann ja „stranded assets“. Die Folge ist eine Investitionszurückhaltung, die weder dem Klimaschutz noch der Wettbewerbsfähigkeit dient.
Es ist Zeit, dass die Politik beim industriellen Klimaschutz endlich Gas gibt. Dass sie einen klaren Investitionsrahmen für klimaneutrale Industrieanlagen schafft, damit Milliarden-Investitionen in grünen Wasserstoff oder in die CO2-Abscheidung bei nicht vermeidbaren Prozessemissionen ausgelöst werden. Die Politik würde damit nicht nur den Klimaschutz der deutschen Industrie vorantreiben, sondern ihr auch ein Sprungbrett verschaffen, mit dem sie die Technologieführerschaft für CO2-arme Schlüsseltechnologien erringen kann.“