Schon kleine Störungen der Produktion können sich in der Prozessindustrie groß auswirken. Die Abläufe bauen auf komplexe, oft hochautomatisierte Systeme, die miteinander verknüpft sind. Ein Ausfall kann daher weitere Konsequenzen nach sich ziehen. Zudem verarbeitet die Branche teils leicht entzündliche oder toxische Stoffe, was die Gefahr für Explosionen und Brände steigert.
Weil viele Anlagen ohne Unterbrechung laufen, sind sie auch erhöhtem Verschleiß ausgesetzt. Ein intelligentes Risikomanagement detektiert alle Gefahren frühzeitig und ermöglicht vorbeugende Maßnahmen. Voraussetzung ist, dass alle Informationen digital zur Verfügung stehen. Doch noch immer nutzen viele Unternehmen analoge Dokumentation oder verwalten Informationen inkonsistent und intransparent.
Deshalb baut TÜV Süd auf ein Wissensmanagement, das sich digitaler Technologien bedient. Das interactive HAZOP-Konzept (iaHAZOP) ist eine Weiterentwicklung der traditionellen HAZOP-Methode. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der definierte Worst-Case-Szenarien nutzt und in statischen Tabellen nutzt, reagiert iaHAZOP zur Laufzeit auf veränderte Betriebsbedingungen. Das dynamische Verfahren sammelt alle wichtigen Informationen der Anlage und ihrer Komponenten. Während des laufenden Betriebs gleicht es die Daten mit unterschiedlichen Referenzwerten ab und berücksichtigt dabei auch Wechselwirkungen von Komponenten untereinander.
Gebündeltes Wissen optimiert Risikobewertung
Die Abhängigkeiten und Zusammenhänge sind in sogenannten Knowledge Graphs dargestellt. In ihnen wird zum Beispiel Expertenwissen bereitgestellt – über die Anlage, den Prozess, typische Verschleißmuster oder Schadenswege. Die Informationen speisen sich etwa aus bisherigen Sicherheitsvorfällen. Erkennt iaHAZOP einen Zusammenhang zwischen Sensordaten und Referenzwerten, wird dies gemeldet und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen vorgeschlagen, um ähnliche Schadensfälle zu vermeiden. Auch regulative Risikogrenzwerte fließen in den Knowledge Graph ein. Überschreiten etwa Messwerte aus dem Abgasreinigungssystem die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte, schlägt iaHAZOP Alarm. Daraus leitet das Risikomanagement mögliche Maßnahmen zur Reduktion der Werte ab, zum Beispiel Filter zu reinigen.
iaHAZOP nutzt darüber hinaus Digital Twins: Steigt der Druck in einer Rohrleitung zum Beispiel über 10 bar, die aber nur bis 10 bar freigegeben ist, meldet iaHAZOP die Abweichung und warnt vor einem möglichen Rohrbruch. Zugleich gibt es Handlungsempfehlungen, etwa die Pumpe zu drosseln oder ein Entlastungsventil zu öffnen. In den Knowledge Graphs werden neben diesen einfachen Parametern auch komplexere Zusammenhänge in Form von Hazard und Safety Rules hinterlegt. Mit Hilfe der Hazard Rules werden Gefahren parameterbasiert dargestellt, sodass die Software Gefahren erkennen und auf diese hinweisen kann. Analog dazu drücken Safety Rules die verfügbaren Schutzmaßnahmen aus.
Unternehmen können sich bei der Implementierung von iaHAZOP zwischen diversen Möglichkeiten entscheiden, von einer On-Site- bis zu einer Cloud-Lösung. On-Site kann iaHAZOP erfolgen, wenn bereits ein Digitaler Zwilling auf einem eigenen Server betrieben wird. Diese Alternative bietet die größtmögliche Kontrolle über die eigenen Daten. Für die cloudbasierte Implementierung wird ein externer Dienstleister einbezogen, was auf Unternehmensseite Ressourcen einspart.
Jederzeit das ganze Bild
Wird iaHAZOP ins Risikomanagement eingebunden, kann das Personal eine gesamtheitliche Auswertung aller Betriebsdaten einsehen und kennt so zu jeder Zeit das aktuelle Risikolevel der Anlage. Auf dieser Grundlage lassen sich beispielsweise Instandhaltungsmaßnahmen effektiver planen, um Betriebsunterbrechungen zu reduzieren. Weil iaHAZOP die Auswertung automatisieren kann, ist es außerdem weniger personalintensiv. Dies hilft auch Unternehmen, die aufgrund des demographischen Wandels mit weniger erfahrenem Personal ausgestattet sind, ihre Anlagen mit dem gewohnt hohen Sicherheitsniveau zu betreiben.
Insgesamt erhöht iaHAZOP die Betriebssicherheit, verbessert die Effizienz und minimiert ungeplante Ausfälle. Damit stellt es Unternehmen der Prozessindustrie auf die hohen Anforderungen der Zukunft ein.