Schon jetzt wird es eng im deutschen Stromnetz: Die Kosten für den Umgang mit Engpässen sind zwischen 2019 und 2023 von 1,3 auf über drei Milliarden Euro gestiegen. Ein wichtiger Grund dafür ist der zunehmende Anteil erneuerbarer Energie, die aus dem Norden in die Industriezentren im Süden gelangen muss. Welche Investitionen in das Netz nötig sein werden, um die Energiewende zu stemmen, haben Prof. Dr. Tom Krebs und Dr. Patrick Kaczmarczyk von der Universität Mannheim zusammen mit Dr. Tom Bauermann vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung untersucht.
Das Ergebnis: „Die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft erfordert bis 2045 einen massiven Aus- und Umbau der Stromnetzinfrastruktur, um unter anderem die Elektrifizierung von Verkehr, Industrie und Gebäuden zu bewältigen.“ Die Gesamtkosten taxieren die Ökonomen auf 651 Milliarden Euro. In den kommenden Jahren seien jeweils Investitionen von rund 34 Milliarden Euro nötig – 127 Prozent mehr als die 15 Milliarden Euro, die 2023 investiert wurden.
Übertragungs- und Verteilnetz betrachtet
In ihrer Studie unterscheiden Bauermann, Kaczmarczyk und Krebs zwei Ebenen der Stromversorgung: Zum einen das Übertragungsnetz, in dem Strom auf Höchstspannungsebene quer durch Deutschland fließt. Zum anderen das Verteilnetz, das diesen Strom lokal an die Haushalte und Betriebe weiterleitet. Die Ökonomen analysieren die aktuellen Netzentwicklungspläne für beide Bereiche und rechnen die vorliegenden Daten teilweise hoch. In einem zweiten Schritt ihres Forschungsprojekts untersuchen sie derzeit, wie sich die Investitionen am besten finanzieren lassen.
Ökonom Tom Krebs betont, dass es in diesem Schritt darum gehen wird, herauszufinden, wie der Ausbau möglichst günstig erfolgen kann, um Verbraucher nicht zu überfordern: „Darum werden wir die Implikationen der Kosten des Netzausbaus für Netzentgelte und Strompreise und Strategien zur Reduktion der Energiekosten analysieren.“ Christina Schildmann, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, sagt dazu: „Es geht zum einen um bezahlbare Strompreise für die privaten Verbraucher*innen, zum anderen um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen energieintensiven Industrie und somit um die Zukunft vieler Industriearbeitsplätze. Für das Gelingen und die Akzeptanz der Energiewende sind zwei Dinge gleichzeitig nötig: hohes Tempo beim Netzausbau und Deckelung der Netzentgelte.“
Plus von 150 Prozent
Die vier privaten Betreiber des Übertragungsnetzes müssen alle zwei Jahre einen Netzentwicklungsplan erarbeiten. Der aktuelle Plan berücksichtigt die Vorgaben des Klimaneutralitätsgesetzes sowie das politische Ziel, den Stromsektor bis 2035 zu dekarbonisieren. Er enthält drei Szenarien, die sich vor allem im Hinblick auf das Ausmaß der Elektrifizierung und den Einsatz von Wasserstoff unterscheiden. Je nach Szenario steigt der Bruttostromverbrauch zwischen 2023 und 2045 von 525 auf 1.080 bis 1.300 TWh. Das erforderliche Investitionsvolumen fällt aber mit rund 328 Milliarden Euro bis 2045 jeweils ähnlich aus. Um die Ziele zu erreichen, müssten die Investitionen in das Übertragungsnetz in kurzer Zeit massiv steigen. Bis 2037 wären jährlich im Schnitt 19,8 Milliarden Euro fällig, danach etwa 5,4 Milliarden. Verglichen mit den Investitionen in Höhe von acht Milliarden im Jahr 2023 wäre das ein Plus von 150 Prozent.
Auch Verteilnetzbetreiber mit über 100.000 Kunden sind verpflichtet, ihre Ausbauziele alle zwei Jahre offenzulegen. Das betrifft von insgesamt 865 Anbietern 81, die wegen ihrer Größe aber zusammen etwa drei Viertel des Verteilnetzes abdecken. Für die Analyse wurden die durchschnittlichen Kosten, die sich aus diesen Plänen ergeben, mit dem physischen Ausbaubedarf verrechnet, wie ihn der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektroindustrie veranschlagen. Daraus ergibt sich ein Investitionsbedarf von 323 Milliarden Euro bis 2045. Jährlich wären das im Schnitt 14,4 Milliarden Euro und damit gut doppelt so viel, wie 2023 investiert wurde.
Risikofaktoren könnten Gesamtkosten erhöhen
Laut der Studie könnten die Gesamtkosten auch noch höher ausfallen – zu den Risikofaktoren gehören unter anderem steigende Rohstoffpreise, Engpässe bei Komponenten wie Transformatoren oder Leitungen und Verzögerungen bei Genehmigungsverfahren. „Angesichts dieser Unsicherheiten ist ein beschleunigter, strategisch koordinierter Netzausbau unabdingbar, um die Ziele der Energiewende in Deutschland zu erreichen und eine klimaneutrale Stromversorgung bis 2045 zu gewährleisten“, erklären die Ökonomen.