Immer mehr Technik muss heute auf kleinem Raum unterkommen. Der Platz ist knapp in Auto, Flugzeug und in sonstigen Maschinen und Geräten. Das Ganze darf auch nicht zu schwer werden. Leichtere Verkehrsmittel etwa brauchen weniger Treibstoff, Batterien von E-Autos halten länger bei leichtem Gepäck.
Eine neuartige Technologie könnte künftig dabei helfen, durch kleinere und leichtere technische Bauteile nicht nur weniger Gewicht auf die Waage zu bringen, sondern zusätzlich auch weniger Energie zu verbrauchen. Das Forschungsteam der Spezialisten für intelligente Materialsysteme Stefan Seelecke und Paul Motzki entwickelt die neuen Bauteile an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik Zema. Sie wollen diese zur Katalogware machen.
„Muskelstränge“ über Stromimpulse betrieben
Die Saarbrücker Forscherinnen und Forscher nutzen die Eigenschaften intelligenter Materialien, um den technischen Bauteilen künstliche Muskeln zu verleihen. Ihren Einsatz finden sie, wo immer sich etwas drehen soll oder Schalter auf kleinem Bauraum gebraucht werden. Sie bringen dabei Rotationsbewegungen, auch größere Drehmomente und Drehwinkel ebenso kraftvoll in Gang, wie es heutzutage nur Motoren, Hydraulik oder Druckluft können. Die über Stromimpulse betriebenen Muskelstränge des Prototyps, den das Forschungsteam in diesem Jahr auf der Hannover Messe zeigt, bestehen aus haarfeinen Drähten aus Nickel-Titan, die anspannen und entspannen können. Auf kleinstem Raum entfalten diese Formgedächtnisdrähte hohe Zugkraft. „Von allen bekannten Antriebsmechanismen haben die künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan die höchste Energiedichte“, sagt Professor Stefan Seelecke.
Die Drähte kontrahieren wie natürliche Muskeln, je nachdem ob Strom fließt oder nicht. „Die Legierung Nickel-Titan hat ein Formgedächtnis. Auf Kristallgitterebene besitzt sie zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln lassen. Dadurch erinnert sie sich quasi an ihre jeweils andere Form und nimmt diese wieder an, wenn etwa die Temperatur sich ändert“, erklärt Stefan Seelecke. Fließt Strom durch einen solchen Draht, erwärmt er sich und seine Kristallstruktur wandelt sich so um, dass er sich verkürzt.
Wird der Strom abgeschaltet, kühlt er ab und wird lang wie zuvor. Sein Team bündelt die feinen Drähte wie echte Muskelfasern, die von Natur aus in Bündeln zusammengefasst sind. „Mehrere Drähte geben durch die größere Oberfläche mehr Wärme ab, dadurch erreichen wir schnelle Kontraktionen“, erklärt Professor Paul Motzki, der mit „Smarte Materialsysteme für innovative Produktion“ eine Brückenprofessur zwischen Universität des Saarlandes und Zema innehat.
Wie eine Beuge- und Streckmuskulatur können die Forscher die Drähte ansteuern. Dabei kommen sie ohne zusätzliche Sensoren aus, was ebenfalls platz- und energiesparend ist. Die künstlichen Muskeln selbst dienen zugleich als Sensoren des Systems. „Verformen sich die Drähte, ändert sich der elektrische Widerstand. Wir können jede Verformung des Drahts präzisen Messwerten zuordnen und können hierdurch sensorische Daten ablesen“, sagt Paul Motzki. Anhand der Messwerte können die Ingenieure schnelle und präzise Bewegungsabläufe der Drähte modellieren und programmieren.
Modular und skalierbar
Mit diesen steuerbaren künstlichen Muskeln bauen die Forscher technische Bauteile modular auf und passen sie verschiedensten Anforderungen an. Um dabei zum Beispiel etwas in Drehung zu versetzen, lassen die Ingenieure die Drähte kontrahieren und so etwa an einem Zahnrad ziehen. Wie bei echten Muskeln nutzen sie dabei muskuläre Gegenspieler. „Wir setzen die Formgedächtnisdrähte als Agonist und Antagonist, als Beuger und Strecker ein, sodass eine Rotation in beide Richtungen möglich ist. Ein Hebel übersetzt dabei die lineare Kontraktion in den entsprechenden Drehwinkel. Je kleiner dieser Hebel ist, desto höher ist der Winkel der Rotation“, erläutert Paul Motzki. „Hierbei kommt auch ein patentierter Zahnstangenmechanismus zum Einsatz, der die Linearbewegung in eine Rotation überführt wie im Prototyp, den wir auf der Hannover Messe zeigen“, ergänzt er.
Die Technologie ist skalierbar, mit ihr sind also auch größere technische Bauteile möglich. Anders als Elektromotoren, pneumatische oder hydraulische Maschinen verursacht das Verfahren keinen Lärm und kommt ohne zusätzliches Equipment wie Schläuche, Ventile, Pumpen oder Kompressoren und auch ohne seltene Erden aus. Auf der Hannover Messe suchen die Forscherinnen und Forscher Partner, um ihr Verfahren für verschiedene Anwendungen weiterzuentwickeln.