Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz aktuell in der strategischen Ausrichtung der Prozessindustrie?
Künstliche Intelligenz bietet zahlreiche strategische Einsatzmöglichkeiten in der Prozessindustrie. Ein zentraler Bereich ist das Lieferkettenmanagement: Bedarfsprognosen werden präziser, Lagerbestände optimiert und Transportwege effizienter gestaltet. Damit einher kann auch die Berechnung des Product Carbon Footprint (PCF) gehen, indem durch KI der CO₂-Fußabdruck entlang der Wertschöpfungskette analysiert wird. In der Produktion ermöglichen Echtzeitanalysen und Vorhersagemodelle eine höhere Effizienz und geringere Ausfallzeiten. Bei der Qualitätskontrolle senken automatisierte Prüfsysteme die Ausschussrate und verbessern die Produktqualität. Hier können durch KI Fehler vorhergesagt werden, die bisher noch gar nicht aufgetreten sind. An diesem Beispiel sieht man den Unterschied zwischen einer deterministischen regelbasierten Automatisierung und einer generativen KI, die sich selbstlernend weiterentwickeln kann. Ein weiteres übergreifendes Thema ist die Energieeffizienz: KI überwacht und optimiert den Energieverbrauch, was Kosten reduziert und die Nachhaltigkeit erhöht. Dies wird dadurch erreicht, dass KI anhand vorhandener historischer Daten eine wesentlich genauere Dayahead-Prognose für die Last erstellen kann. Aber auch die Vorhersagequalität des Wetters führt zu einer genaueren Prognose der Erzeugung durch regenerative Energiequellen (PV und Wind).
In welchen Bereichen sehen Sie das größte Potenzial für KI in der Prozessindustrie?
Besonders in der Fehlersuche und der Fehlererkennung ist der Nutzen groß: KI analysiert historische Daten, erkennt Muster und identifiziert Probleme schneller. Das spart Zeit und ermöglicht gezielte Lösungen. Das heißt: Generative KI kann Fehlerbilder entwickeln, die so bisher noch nicht aufgetreten sind, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftreten werden. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Überwachung komplexer Prozesse mit vielen dynamischen Variablen. Hier greift KI nur bei Auffälligkeiten ein und entlastet das Personal. Auch in der Qualitätssicherung zeigt sich großes Potenzial: KI vergleicht Produktionsprozesse mit dem „Golden Batch“, erkennt Abweichungen und verhindert Qualitätsprobleme. Zudem ermöglicht vorausschauende Wartung die Analyse des Maschinenzustands und vermeidet ungeplante Ausfälle. Angesichts des Fachkräftemangels gewinnt KI weiter an Bedeutung, da sie Wissen bewahrt und Mitarbeitende durch intelligente Assistenzsysteme unterstützt.
Wie zuverlässig sind KI-Modelle in der Praxis? Gibt es eine ungefähre Erfolgsquote?
Die Genauigkeit von KI-Modellen hängt stark von deren Training, der Qualität der verwendeten Daten, dem Use-Case und der Technologie ab. In manchen Fällen erreichen sie Trefferquoten von bis zu 90 Prozent, in anderen Fällen wiederum kann das Ergebnis unbefriedigend sein. Dennoch bleibt menschliche Expertise unverzichtbar, um Fehleinschätzungen zu korrigieren. Völlig autonom und zuverlässig agierende KI bleibt vorerst
Zukunftsmusik.
Früher war in der Branche eine deutliche Skepsis gegenüber Datenspeicherung und Cloud-Lösungen spürbar. Hat sich diese Haltung mittlerweile verändert?
In Teilen. Wir bieten unseren Kunden nach wie vor alle drei Optionen der Datenspeicherung an, nämlich lokal auf einem Industrie-PC, lokal auf einem eigenen Server oder in der Cloud. Die Entscheidung liegt somit beim Kunden, welche Lösung einsetzt wird. Was wir bei einer Cloud-Lösung vermehrt sehen ist, dass das Bewusstsein für die Bedeutung eigener, KI-fähiger Rechenzentren in Europa wächst. Viele Unternehmen setzen aus Datenschutzgründen auf europäische Lösungen, um ihre Daten nicht in andere Regionen wie die USA oder China zu geben. Während einige auf Cloud-Dienste wie Amazon oder Azure setzen, bevorzugen andere lokale Server, die in Deutschland oder Europa stehen und von einem deutschen oder europäischen Unternehmen betrieben werden. Entscheidende Faktoren sind neben dem Speicherort auch Cybersecurity beziehungsweise der Schutz vor internen und externen Angriffen.
Welche weiteren Herausforderungen neben Cybersecurity sehen Sie bei der Implementierung von KI?
Eine der größten Herausforderungen ist der Umgang mit Menschen. Während einige von KI begeistert sind, fürchten andere den Arbeitsplatzverlust oder sehen eine ungewisse Zukunft. Hier darf nicht vergessen werden: Menschen sind der Schlüssel zum Erfolg. Deshalb gilt es hier, Mitarbeitende frühzeitig einzubeziehen und sie zu motivieren, eigene Erfahrungen mit KI zu sammeln. Durch die gezielte Einführung in internen Prozessen lassen sich Ängste abbauen und Potenziale besser
erschließen.
Wie wird sich die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine in Zukunft entwickeln?
Der Mensch wird nicht verdrängt, sondern entlastet. KI übernimmt wiederholende Aufgaben und ermöglicht es den Mitarbeitenden, sich auf anspruchsvollere Tätigkeiten zu konzentrieren. Unternehmen, die ihr Personal im Umgang mit KI schulen, werden langfristig im Vorteil sein. Die Zukunft gehört einer Zusammenarbeit, in der Mensch und Maschine ihre jeweiligen Stärken nutzen.
Ist die Kritik, dass durch KI langfristig Arbeitsplätze verloren gehen könnten, somit obsolet?
Der Einfluss von KI auf Arbeitsplätze ist nicht schwarz oder weiß, sondern grau. Es werden sicherlich Jobs durch Automatisierung verschwinden, aber gleichzeitig neue Berufsbilder entstehen, die wir heute noch nicht sehen. Der Schlüssel liegt darin, sich weiterzubilden und neue Fähigkeiten anzueignen. Lebenslanges Lernen wird entscheidend sein, um mit der schnellen technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Weiter ist der Fachkräftemangel bereits heute in vielen Unternehmen angekommen. Durch KI wird ermöglicht, dass die noch vorhandenen Experten entlastet werden und andere Aufgaben übernehmen können, die sie so zeitlich gar nicht bewältigen könnten
Ist der Einsatz von KI eher eine Frage der Betriebsgröße oder ist es eine Generationsfrage?
Es hängt weniger von der Generation als von der Offenheit gegenüber neuen Technologien ab. In großen Unternehmen sind die Ressourcen für Innovationen oft besser verfügbar. Kleinere Unternehmen haben ebenfalls Potenzial, wenn die Geschäftsführung aktiv die Einführung neuer Technologien vorantreibt. Entscheidend ist, wie schon erwähnt, die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und kontinuierlich zu lernen.
Wo liegen aktuell die Grenzen von KI?
Trotz aller Fortschritte stößt KI aktuell noch an Grenzen. Besonders bei ethischen Entscheidungen, etwa im Bereich selbstfahrender Autos, sind klare Richtlinien erforderlich. Auch die Abhängigkeit von KI birgt Risiken: Menschen könnten verlernen, selbstständig Wissen zu erarbeiten. Langfristig bleibt Expertenwissen aber unverzichtbar, um KI-Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. Und genau da sehe ich die Herausforderung, trotz – oder mit – KI Expertenwissen aufzubauen.
Wie bewerten Sie Europas Position im internationalen Vergleich beim Einsatz von KI?
Europa hat lange daraufgesetzt, Technologien zu übernehmen, anstatt diese selbst zu entwickeln. Das rächt sich angesichts der Fortschritte in den USA und China. Während China bereits eigene Wege in der KI-Entwicklung geht, verfolgen die USA unter Donald Trump eine „America-First“-Strategie. Für Europa bedeutet das, dass wir dringend eigene Schritte unternehmen müssen. Die größte Herausforderung ist eine stärkere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Nur durch vereinte Anstrengungen können wir international wettbewerbsfähig bleiben.
ABB ist bekannt für innovative Automatisierungslösungen. Wie integriert ABB KI bereits in bestehende Systeme, um einen Mehrwert zu schaffen?
ABB nutzt KI seit längerem in verschiedenen Produkten der Prozessautomatisierung. Ein Beispiel ist OPTIMAX, eine Energiemanagement-Lösung, welche den Energieverbrauch in unterschiedlichsten Anwendungen, wie zum Beispiel Kraftwerken, Industriestandorten, Liegenschaften oder Bürogebäuden optimiert. Oder das System PlantInsight, welches große Datenmengen analysiert und relevante Daten visualisiert, um Anlagenfahrer bei Entscheidungsprozessen zu unterstützen. Zudem kombiniert ABB in der Ability-Plattform KI mit dem Industrial IoT, um Effizienz und Produktivität zu steigern. KI wird nicht nur in der Automatisierung, sondern auch in Robotik und Antriebstechnik sowie der Energieoptimierung genutzt. Viele dieser Anwendungen sind bereits in Betrieb, aber für Kunden nicht immer offensichtlich.
Mit welchen Partnern arbeitet ABB im Bereich KI zusammen?
ABB kooperiert mit großen Unternehmen wie IBM und Microsoft, um innovative Lösungen zu entwickeln. Zudem bestehen enge Partnerschaften mit Universitäten und Start-ups (zum Beispiel BrainboxAI, T-Robotics und Mbodi), um Forschung zu fördern und vielversprechende Technologien gezielt weiterzuentwickeln.
Wie unterscheidet sich der KI-Ansatz von ABB im Vergleich zu den Wettbewerbern?
Ein wesentlicher Unterschied zu Wettbewerbern ist der Fokus von ABB auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und branchenübergreifende KI-Lösungen. Unsere Struktur ermöglicht es uns, KI in verschiedenen Sektoren wie Energie, Versorgungswirtschaft und Fertigung einzusetzen, wodurch wir Entwicklungskosten minimieren und gleichzeitig hohen Mehrwert schaffen. Zudem legen wir großen Wert auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit unserer KI-Modelle, um die oft undurchsichtigen „Blackbox“-Ansätze zu vermeiden und sicherzustellen, dass Änderungen an Parametern keine unkontrollierbaren Ergebnisse produzieren. Diese Merkmale heben uns von anderen ab.
Blicken wir in die Zukunft. Wie wird sich der Einsatz von KI in der Prozessindustrie in den nächsten vier bis fünf Jahren entwickeln?
Die Prozessindustrie steht vor unterschiedlichen Herausforderungen. Kleine Unternehmen müssen sich erst mal digitalisieren und Daten sammeln, um KI überhaupt anwenden zu können und den Anschluss zu finden. Für fortschrittliche Unternehmen mit vorhandener Datenstruktur wird KI in den nächsten Jahren viele Prozesse optimieren und automatisieren. Das birgt Chancen, aber auch das Risiko, die Kontrolle über Teile der Produktion zu verlieren. Insgesamt beschleunigt sich der Weg hin zu KI-gesteuerten Prozessen.
Abschließend: Ist Künstliche Intelligenz derzeit mehr Hype oder schon Realität?
KI ist sowohl ein Hype als auch bereits Realität – und genau das macht es schwierig. Die Technologie bietet enormes Potenzial, doch es bleibt wichtig, ihre Ergebnisse stets kritisch zu hinterfragen. Für Europa ist es entscheidend, gemeinsam an der Entwicklung zu arbeiten, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Denn: Europa hat viel zu bieten, wenn wir unsere Stärken richtig nutzen.