P&A
Stillgelegte Anlagen waren noch vor drei Jahren in der chemischen Industrie gang und gäbe. Heute sind gerne auch mal 110 Prozent Auslastung gefragt. Wie reagiert Ihre Abteilung auf derartige Schwankungen, Herr Dr. Hajduk?
Martin Hajduk
(lacht) Über mangelnde Auslastung können wir uns im Moment nicht beschweren. Aber damit da kein falscher Eindruck entsteht: Auch 2009 haben wir unwahrscheinlich viel zu tun gehabt. Gemeinsam mit der Prozessoptimierung haben wir ermittelt, ob einzelne Apparate abgeschaltet werden können, ob Dampfverbraucher so optimiert werden können, dass ein Heizkessel komplett heruntergefahren werden kann und vieles mehr. Heute lässt sich unsere Hauptaufgabe wohl am besten so beschreiben: Die Prozessanalytik - als Teil der Produktions- und Automatisierungstechnik - beschafft die Information für die Prozessoptimierung.
Die reine Kontrollfunktion rückt also mehr und mehr in den Hintergrund?
Ja, das hat sich in den vergangenen 15 Jahren deutlich verändert. Seitdem arbeiten wir daran, die Prozessführung optimal zu nutzen und noch immer kann man aus vielen Prozessen etwas rauskitzeln. Um aber den Prozess mit Hilfe von Online-Analytik besser zu kontrollieren, sind überaus zuverlässige Messwerte nötig - oder zumindest die Transparenz darüber, ob der Wert korrekt oder fehlerhaft ist. Heutige Prozessanalysenmessstellen sollten diese Information über einen Maintenance Request Alarm zur Verfügung stellen.
Wie unterscheiden sich die Anforderungen an die Prozessanalysentechnik in der Petrochemie von denen in der Spezialchemmie oder Lebensmittelindustrie?
In der Petrochemie müssen Kolonnenverbünde optimiert werden. Schwankt da der Einlauf, kann kein Messwartenfahrer ohne zuverlässige Analytik gegensteuern. Denn zwischen Einlauf und dem Endprodukt liegen oft 24 Stunden und gegebenenfalls mehrere Trenn- oder Reaktionsstufen. Hier sind besonders zuverlässige Prozessanalytik und darauf aufsetzend ausgefeilte Regelstrategien gefragt. In der Feinchemie muss man zwischen den Anforderungen der Batch- und Konti-Prozesse unterscheiden. Während bei den Batchprozessen einzelne Reaktionsschritte optimiert werden müssen und ohne lange Wartezeiten die Endqualität ermittelt wird, sind in den Kontiprozessen, ähnlich wie bei der Petrochemie, durch die auf der Prozessanalytik aufbauende Prozessführung gleichzeitig mehrere Prozessschritte in Richtung Ausbeute, Nebenproduktbildung, Energie- und Einsatzstoffmenge zu optimieren.
Ein anderes Extrem bildet die Lebensmittelanalytik.
Ja, mittelständische Lebensmittelunternehmen können sich nur selten Spezialisten in eigenen Fachabteilungen leisten. Prozessverbesserungen entstehen dort oft in Zusammenarbeit mit Universitäten. Etwa bei der Herstellung von Wurst, wo man mit der Optimierung der Eiweiß-Zusammensetzung oder des Wassergehalts Geschmack und Prozesskosten stark beeinflusst. Der Wassergehalt ist ohnehin in unterschiedlichsten Branchen ein wichtiges Kriterium: von der holzverarbeitenden Industrie bis hin zur Feinchemie, wo die Effizienz oft deutlich steigt, wenn Trockner optimal gefahren werden.
Welche Ziele der Prozessoptimierung unterstützt Ihre Abteilung darüber hinaus?
Das beginnt bei der Verfahrensentwicklung. Dort dominiert zwar Laboranalytik, aber es kristallisiert sich schon heraus, welche Art der Prozessanalytik, also welches permanente Signal, nötig ist, um den Prozess optimal zu führen. Im Rahmen der Prozessoptimierung geht es oft um die Erhöhung der Ausbeute, etwa indem wir chemische Reaktionen näher am Limit fahren. Ein typisches Beispiel sind partielle Gasphasenreaktionen, die erst mit optimalem Sauerstoffanteil richtig effektiv sind. Man fährt dazu möglichst nahe an die Explosionsgrenze heran. Damit die Anlage sicher betrieben werden kann, muss die eingesetzte Analysentechnik zuverlässig, genau und ausfallsicher sein, also nach SIL-Einstufung bewertet werden.
Hat sich mit der Ausreizung der Grenzen und der vorschreitenden Prozessoptimierung auch die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen verändert?
Ja, denn wenn man den Prozess anders fahren will, kann zum Beispiel nur ein Chemiker beurteilen, ob der verwendete Katalysator das leisten kann. Fahre ich sehr nahe an einem Sicherheitsschaltpunkt, besteht natürlich die Gefahr, dass die Anlage schlagartig ausgeschaltet wird. Was hat das für Auswirkungen? Da ist nicht der einzelne Fachmann gefragt, sondern ein Team von Fachleuten. Aus diesen Gründen haben wir uns inzwischen anders aufgestellt. Wir bilden Teams aus Verfahrenstechnikern, Chemikern, Regelungstechnikern, Statistikern und Prozessanalysentechnikern, die Verfahren optimieren oder Konzepte für neue Anlagen entwickeln.
Erfüllen Modellierungs- und Simulationsverfahren das, was sie einmal versprochen haben?
Durchaus, es ist sehr hilfreich, wenn unsere Kollegen von CAPE (Computer Aided Process Engineering) simulationsunterstützt die wichtigsten Einflussparameter ermitteln. Aber das ist nicht immer einfach. Bestehende Anlagen lassen sich meist hervorragend abbilden. Für neue Produktionsverfahren wäre das ebenfalls ideal, schon allein für eine vernünftige Investitionskostenschätzung, aber auch, um mit Hilfe der Simulation das Verfahren im Vorfeld zu optimieren. Doch dies ist sehr schwierig, wenn es noch keine hinreichenden Informationen aus bestehenden Prozessen gibt. Hierfür werden aber im Rahmen von Labor- und Miniplantversuchen neue Erkenntnisse gewonnen, die direkt in die Simulation einfließen, wodurch dann verlässliche Ergebnisse erzielt werden. Die Modellierung erlaubt aber auch schon bei geringen Informationen eine ROI-Abschätzung (Return on Invest), um verschiedene Verfahrensrouten vergleichen zu können.
Ab welchem ROI führen Sie Optimierungsmaßnahmen durch?
Von unserem Invest müssen mindestens 23 Prozent innerhalb eines Jahres wieder zurückfließen.
Dann kann man bei der Einführung von Prozessanalyse-Methoden fast nichts mehr falsch machen, oder?
Oh doch. Einer der häufigsten Fehler ist zu glauben, das Prozessanalysensystem ist mal eben schnell eingeführt und braucht danach keine Betreuung mehr. Schnell einführen - das ist möglich, aber nicht selten treten dann Fehler auf. Wenn diese nicht von der Spezialabteilung gelöst werden, werden Analysatoren schnell wieder abgeschaltet. Zum Teil wird sogar das Regelungskonzept verworfen und wieder nur teilautomatisiert gefahren. Es ist also ganz, ganz wichtig, komplexe Prozessanalysensysteme regelmäßig zu betreuen und die gelieferten Ergebnisse mit den Anlagenbetreibern zu diskutieren. Nur so kann man sicherstellen, dass das einmal überlegte Konzept auch realisiert wird.
Das klingt nach viel Betreuungsaufwand. Übernehmen das grundsätzlich die Spezialisten Ihrer Abteilung?
Bei der Evonik betreuen sieben Spezialisten jeweils verschiedene PA-Techniken. Bei Standard-pH-Messstellen machen das die Kollegen aus den Mess- und Regelungsabteilungen in den Produktionsstätten. Wir kommen ins Spiel, wenn pH extrem schwierig zu messen ist - zum Beispiel bei Fällungsprozessen. Unsere Arbeit beginnt mit der Auswahl und dem Aufbau von Analysemessstellen mit komplexen Messmethoden, wie HPLC, Gaschromatographie, Spektroskopie, Kombinationen verschiedener physikalischer Messmethoden - kurz, wir betreuen alles, was nicht von der Stange zu kaufen ist. Auch wenn fünf oder sechs Messgrößen mit der NIR-Spektroskopie zu bestimmen oder chemometrische Modelle zu pflegen sind, sind wir gefragt. Glücklicherweise gibt es heute Fernbetreuungsmethoden, die uns den Zugriff auf komplizierte Analytik in den Anlagen weltweit ermöglichen und eine Maintenance vereinfachen.
Sicherlich eine Technik, die die Arbeit deutlich erleichtert. Welche weitere technische Entwicklung begrüßen Sie besonders?
Nach detaillierten Untersuchungen von Evonik und anderen Chemiekonzernen entstehen die meisten Probleme einer PA-Messstelle bei der Probenahme. Zu den wichtigsten Neuerungen gehören also die Inline-Messungen. Wenn wir inline messen können, dann tun wir das. Die TDLAS (Tunable Diode Laser Absorption Spectroscopy) beispielsweise hat sich bei Evonik als schnelle und zuverlässige Gasanalytik zur Prozessoptimierung etabliert. Die Konzentration von Sauerstoff wird heute fast ausschließlich mit Inline-Lasern bestimmt, aber auch für viele weitere kleine Moleküle wie Schwefelwasserstoff oder Methanol ist das eine gewinnbringende Methode.