Prozessautomation Wehret der Schlammschlacht

WAGO GmbH & Co. KG


Eingespieltes Team bei Modernisierungen: Peter Koller (l.), Werkleiter des Abwasserbetriebs Rinteln, und Automatisierungsexperte Simon Lübbing.

22.03.2013

Faulschlamm ist besser als sein „anrüchiger“ Name vermuten lässt. Entwässert wird er sogar zum wertvollen Brennstoff. Die dabei entstehenden, sehr stickstoffhaltigen Rückläufe behandelt die Kläranlage Rinteln mit einem wenig verbreiteten SB-Reaktor - präzise automatisiert mit einem I/O-System, das seit einem Retrofit fast schon als „Hausmarke“ gelten kann.

Nase rümpfen gilt nicht. Wenn über einer Kläranlage heute noch immer ein unangenehmer Geruch liegt, ist sie entweder überlastet oder wird nicht professionell betrieben. Dann mischen sich Ammoniumverbindungen, Schwefelwasserstoff und andere Gase zu einem üblen Geruchscocktail. Ammoniumverbindungen befinden sich auch im Faulschlamm, der in Kläranlagen anfällt. Der überwiegende Teil dieses stabilisierten Klärschlamms landet heute in Deutschland noch als Dünger auf den Feldern; gut ein Drittel wird verbrannt. Dazu muss der bis zu 99 Prozent aus Wasser bestehende Schlamm entwässert werden; Eindicker und Zentrifugen reduzieren das Volumen des Faulschlamms stark. Bei diesem Entwässerungsprozess abfließende Zentrate und Trübwasser weisen eine hohe Konzentration von Ammoniumstickstoff auf. Diesen Nebenstrom kann man als internes Abwasser wieder der biologischen Reinigungsstufe der Kläranlage zuzuführen. Ökologisch und betriebswirtschaftlich macht es sich aber bezahlt, wenn man ihn in separaten Reaktoren gesondert behandelt.

SB-Verfahren exakt steuern

„Der sogenannte SB-Reaktor (Sequence-Batch-Reaktor) lässt sich mit einer kleinen, hochspezialisierten Kläranlage vergleichen, die bei uns ihrerseits von einer großen umgeben ist“, erklärt Peter Koller, Werkleiter des Abwasserbetriebs der Stadt Rinteln. Vor dem Hintergrund immer strengerer gesetzlicher Grenzwerte bei den Ablaufwerten von Kläranlagen, kommt dem Stickstoff in Rinteln eine besondere Bedeutung zu - vor allem, weil die Abwässer einiger angesiedelter Industrieunternehmen eine hohe organische Fracht aufweisen. Im Reaktorbecken wandeln in einer exakt zu kontrollierenden Prozesskette Bakterien das Ammonium zu gasförmigem molekularem Stickstoff um. „Die Anammox-Stämme sehen aus wie ein roter Schwamm“, erzählt Koller. 2009 fiel die Entscheidung, das in der Branche noch neue Verfahren zum Einsatz zu bringen - zunächst mit einer mobilen Pilotanlage, dann mit dem SB-Reaktor. Für die Automatisierung sowie die Anbindung des komplexen Messcomputers per Modbus RTU fiel die Wahl auf Wago. Der kommunale Betrieb hatte bereits gute Erfahrungen bei einer Reihe von Umrüstungen gesammelt. Mit Automatisierungslösungen aus Minden wurde dabei die abgekündigte S5-Steuerungswelt mit Interbus-Kommunikation auf den aktuellen Stand der Technik gebracht. Vor rund sechs Jahren startete der Abwasserbetrieb mit ersten Retrofit-Arbeiten und suchten in diesem Zuge nach einem neuen Steuerungssystem. „Letztlich sind wir nach umfangreichen Marktrecherchen vor der eigenen Haustür fündig geworden“, meint Koller mit Blick auf die wenigen Kilometer, die Rinteln vom Wago-Hauptsitz Minden trennen. Die Modernisierung eines Schneckenpumpwerks verlief mit dem Wago-I/O-System seinerzeit so einfach, „dass wir die Arbeiten fast in Eigenleistung hätten erledigen können“. Überzeugt hat Peter Koller das schlüssige Baukastensystem, das sich so einfach aus- und umbauen lässt „und schlichtweg funktioniert“. Das I/O-System versetzte Simon Lübbing vom gleichnamigen Automatisierungs- und Anlagenbau in die Lage, Umrüstungen ohne Betriebsstörungen vorzunehmen. Als Beispiel nennt der MSR-Experte den Umbau des Pumpwerkkomplexes für Regen-, Hoch- sowie Schmutzwasser. Dessen Steuerung war in die Jahre gekommen, ein adäquater Ersatz war nicht verfügbar. Die Anlage zum Schutz vor Weserhochwasser sowie Starkregen ist mit drei kaskadiert hintereinander geschalteten Pumpen auf maximale Verfügbarkeit ausgelegt. „Wir haben die Automatisierung sukzessive auf Wago umgerüstet“, erklärt Simon Lübbing und verweist auf die dezentral aufgebaute Automatisierung. Im Vergleich zur vormals zentralen Struktur „kann der Ausfall einer Steuerung jetzt nicht mehr die gesamte Anlage zum Ausfall bringen.“ Die Klärwerksmitarbeiter greifen von der Leitwarte aus per Webbrowser über das Netzwerk auf die Pumpen zu. Das Hauptvisualisierungsbild ist entsprechend der Pumpenanzahl dreigeteilt und zeigt auf einen Blick alle für den sicheren Betrieb relevanten Kenndaten. Hierzu zählen zum Beispiel Fördermenge, Spannung, Strom, Wirkleistung und Betriebsarten. Mit einem Mausklick greift das Personal auf die tieferliegende Softwareebene zu und kann dort Betriebsarten ändern, Störungen quittieren, Alarme, Warnungen und Parameter analysieren und die Pumpen hinsichtlich der auftretenden Vibrationen überwachen. Ihre Betriebszustände sind für den Abwasserbetrieb ein wichtiges Indiz „wie es unseren Pumpen geht“, erläutert Peter Koller angesichts der sicherheitsrelevanten Bedeutung im Hochwasserschutz. „Wir liegen mitten im Hochwassergebiet. Die gesamte Anlage ist deshalb von einem Deich umgeben.“ Die Analyse der Vibrationen mündet in ein Condition Monitoring, dem Kern der Anlagenüberwachung. Kostengünstig realisiert wurde die Schwingstärke- und Wälzlagerüberwachung ebenfalls mit dem Wago-I/O-System, das die Daten der in der Anlage montierten Sensoren direkt verarbeitet - unabhängig davon, ob in digitaler Form oder als Analogsignale. Statt das Bedienen und Beobachten der Abwasserbehandlungsprozesse - wie in der Vergangenheit - über einen zentralen Server zu realisieren, nutzt die Lübbing Elektrotechnik die auf den Steuerungen des I/O-Systems vorhandene Visualisierung. Die Art der Darstellung zielt in Rinteln darauf ab, den Klärwerksmitarbeitern die wichtigsten Anlagenzustände und Prozesswerte schnell und eindeutig zu liefern, statt mit optischen Spielereien zu glänzen. Die auf die Steuerungen der Einzelanlagen verteilte Webrowser-basierte Visualisierung hat noch einen weiteren Vorteil: Treten Veränderungen der Abläufe auf, wird lediglich die davon direkt betroffene Visualisierung angepasst. In der Vergangenheit musste der Abwasserbetrieb mit seiner zentralen Server-Lösung jedes Mal viel Geld in die Hand nehmen, um die entsprechenden Funktionen aufwändig programmieren zu lassen.

Nachbarschaftshilfe für Solution Provider

Nicht nur mit dem Ziel, die Installation und Inbetriebnahme vor Ort in Rinteln so schnell und reibungslos wie möglich zu gestalten, hat Lübbing regelmäßig den Applikationssupport von Wago in Anspruch genommen. „Als sogenannter Solution Provider sind wir zertifizierter Systempartner und stehen deshalb ohnehin in engem Kontakt mit Wago“, beschreibt Lübbing die ebenso unkomplizierte wie professionelle Unterstützung aus der Nachbarschaft. Herausgekommen ist letztlich eine effektive Automatisierungslösung, die dezentral aufgebaut ist - genauso wie die Visualisierung. Aktuell verwendet die Kläranlage - ihre Kapazität ist ausgelegt für 80.000 sogenannte Einwohnerwerte - nur noch einen einzigen Server für das zentrale Daten- und Alarmierungsmanagement. Die I/O-Systeme versorgen über Modbus-TCP-Kommunikation den Rechner dafür auf schlanke Weise mit den notwendigen harten Anlagenkennzahlen und Log-Dateien.Wago auf der Hannover-Messe: Halle 11, Stand C 64

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