Die Nachfrage nach kritischen Materialien wie Lithium, Kobalt und Seltenen Erden steigt. Diese Rohstoffe sind unerlässlich für Batterien, Elektronik und erneuerbare Energien. Da sie oft nur in wenigen Ländern vorkommen, steigt die Abhängigkeit und Anfälligkeit der Lieferketten. Geopolitische Spannungen und Handelsbeschränkungen verschärfen die Lage zusätzlich. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Kreislaufwirtschaft an Bedeutung. Auch herkömmliche Rohstoffe wie Aluminium sind zunehmend von Knappheit betroffen. Bislang galt das Metall als relativ gut verfügbar.
„Die Herstellung von Primäraluminium – also Aluminium, das direkt aus dem Erz gewonnen wird – verzeichnet in Deutschland einen stetigen Rückgang“, erklärt Prof. Martina Zimmermann, Kompetenzfeldleiterin Werkstoffcharakterisierung und -prüfung am Fraunhofer IWS. Diese Entwicklung zwingt die Industrie, verstärkt auf Sekundärrohstoffe zurückzugreifen. Sie werden durch das Recycling von bereits verwendeten Metallen hergestellt. Das ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich attraktiv. Der Einsatz von Sekundärrohstoffen spart Energie und reduziert den CO2-Ausstoß.
Es besteht jedoch ein Problem: Während des Recyclingprozesses können Verunreinigungen entstehen. Ursache dafür sind Fremdstoffe wie Lacke, Kunststoffe oder andere Metalle, die sich im Altmaterial befinden. Das erschwert nicht nur die Aufbereitung, sondern mindert auch die Qualität der Sekundärrohstoffe. Welchen Einfluss hat also ein wiederholtes Recycling? „Ein weiterer wichtiger Punkt sind mögliche Chargenschwankungen, mit denen die Industrie zu kämpfen hat“, ergänzt Prof. Zimmermann. Das Problem sei beispielsweise bei Edelstahlblechen bekannt, die zur Produktion von Bipolarplatten für die Batterie- und Brennstoffzellenherstellung gebraucht werden. In Edelstahl ist Nickel enthalten. Ist es jedoch knapp, wird es nur in den geringstmöglichen Mengen beigemischt. Das hat Einfluss auf die Umformbarkeit und die Korrosionsbeständigkeit des Bleches.
Schnelle Materialtests durch Kombination von Simulation und Experiment
Ziel muss es also sein, die Zusammensetzung und die Materialeigenschaften präzise, schnell und kostengünstig zu erfassen, um industrielle Prozesse darauf abzustimmen. Hier setzt das Fraunhofer-Leitprojekt „Digitales Ökosystem für eine resiliente und nachhaltige Versorgung mit funktionssicheren Werkstoffen“ an, kurz: „ORCHESTER“. Seit Anfang 2024 arbeiten dafür sechs Fraunhofer-Einrichtungen unter Leitung des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM zusammen. Das Fraunhofer IWS ist eines davon. Bis Ende 2027 wollen die Forschenden neue Wege finden, um der Rohstoffknappheit zu begegnen beziehungsweise neue Wege zur Adaptierung an die Materialverfügbarkeiten für die verarbeitende Industrie aufzuzeigen.
Sie nutzen dafür einen modernen Ansatz in der Materialforschung, der digitale Modelle und praktische Experimente eng miteinander verbindet – das sogenannte Kombinatorische Werkstoffdesign. Mit dieser Methode können Wissenschaftler im Labor verschiedene Szenarien durchspielen, etwa wie sich Unterschiede in der Materialzusammensetzung, Anpassungen bei der Herstellung oder wiederholtes Recycling auf die Eigenschaften eines Materials auswirken. Indem sie digitale Simulationen und reale Tests kombinieren, können sie Materialeigenschaften besser voraussagen und notwendige Anpassungen schneller vornehmen.
Das Fraunhofer IWS profitiert bei dieser Aufgabenstellung von Erfahrungen aus einem anderen Projekt. Im Rahmen des europäischen Programms M-ERA.net beschäftigte sich die Gruppe Werkstoff- und Schadensanalytik um Dr. Jörg Kaspar mit Hochentropie-Legierungen („High Entropy Alloys“, HEA). Sie gelten als vielversprechend für die Luftfahrt, den Turbinenbau und andere Hochleistungsindustrien. Die Legierungen bestehen aus mindestens fünf verschiedenen chemischen Elementen, die in ähnlichen Anteilen zu einem Werkstoff kombiniert werden. Damit verlässt man das klassische Konzept metallischer Werkstoffe, bei denen ein chemisches Element dominiert, zum Beispiel Eisen im Fall von Stahl. Richtig gestaltet bieten die HEA-Legierungen einen herausragenden Mix an Eigenschaften: Sie besitzen eine hohe Festigkeit bei gleichzeitig hoher Duktilität und sind hitze-, verschleiß- und oxidationsbeständiger als traditionelle Materialien wie Stahl oder Aluminium.
Digitale Methoden für optimierte Materialkombinationen
Trotz ihres Potenzials kommen HEAs bisher nur wenig zur Anwendung – nicht zuletzt, da sie schwer zu verarbeiten und teuer in der Herstellung sind. Die ideale Zusammensetzung effizient zu finden, bleibt eine Herausforderung. Angesichts der vielen möglichen Kombinationen würde es Jahre dauern, jede Variante manuell zu testen. „Wir wenden eine Methode an, die diesen Prozess deutlich beschleunigt“, erklärt Dr. Kaspar. Zuerst kommt eine Computersimulation zum Einsatz. Basierend auf umfangreichen Daten zu verschiedenen chemischen Kompositionen werden attraktive Legierungen identifiziert und vorausgewählt.
Danach folgt der praktische Test. Mit additiven Fertigungsanlagen stellen Forschende rasch Proben der vorhergesagten HEA-Zusammensetzungen her. Die Anlagen mischen elementare Pulver wie Eisen, Chrom und Nickel, schmelzen sie mit einem Laser auf und tragen sie auf eine Probenplatte auf. Die Maschine variiert die Zusammensetzung automatisch und jede neue Legierung wird hinsichtlich Härte, Festigkeit und andere relevante Eigenschaften geprüft. Dieser teilautomatisierte Ansatz ermöglicht es, die optimale Legierung deutlich schneller zu finden.
„Diese Kenntnisse wollen wir nun auch im neuen Projekt ORCHESTER nutzen“, sagt Prof. Martina Zimmermann. Ein Orchester vereine verschiedene Instrumente, erklärt sie anschaulich den Projektnamen. „Wir hören Instrumente, die zwar verschiedenes spielen, aber am Ende zu einem Klang verschmelzen.“ In Materialien kommen verschiedene Ausgangsstoffe zusammen, die jeweils eigene Eigenschaften einbringen. „Wir wollen einen Weg finden, die Zusammensetzung und diese Eigenschaften effizient zu ermitteln und zu bewerten.“ Simulationen und Experimente schaffen am Ende eine digitale Wissensbasis über die Materialeigenschaften. Das ermöglicht später Handlungsempfehlungen für die Industrie und tiefere Einblicke in Materialanwendungen.
Die Ideen reichen weiter. Aktuell entwickeln die Forschenden bereits neue Konzepte für künftige Projekte. „So können wir mit unserem Kombinatorischen Werkstoffdesign sehr effizient herausfinden, wie wir aus Schrott wieder und wieder Materialien für den erneuten Einsatz gewinnen können, ohne Einbußen in deren Eigenschaftsprofil hinnehmen zu müssen“, sagt Dr. Jörg Kaspar. Das Problem der Rohstoffknappheit können die Projekte am Fraunhofer IWS allein nicht lösen. „Aber gemeinsam mit unseren Partnern wollen wir einen Beitrag leisten“, fügt Prof. Martina Zimmermann hinzu.