Minderung von Treibhausgasemissionen Wie Chemie-, Zement- und Stahlindustrie CO2-neutral werden

Nach aktuellem Stand wird die europäische Chemie-, Zement- und Stahlerzeugung die gesteckten Klimaziele verfehlen. Eine Studie zeigt Maßnahmen auf, um die CO2-Emissionen nachhaltig zu verringern.

Bild: iStock, acinquantadue
19.11.2020

Die europäische Stahl-, Zement- und Chemieindustrie könnte bis 2030 die nötigen Treibhausgasminderungen des European Green Deal erreichen. Das gelingt allerdings nicht wie aktuell geplant durch Effizienzsteigerungen konventioneller Anlagen, sondern durch die Investition in klimaneutrale Schlüsseltechnologien, zeigt eine neue Studie.

Die in der EU diskutierten technischen Lösungen zur Minderung von Treibhausgasemissionen in der europäischen Stahl-, Zement- und Chemieindustrie bis 2030 verfehlen das langfristige Ziel der Klimaneutralität. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie von Agora Energiewende. Denn laut dem „Climate Impact Assessment“, der Folgenabschätzung über ein höheres Klimaziel bis 2030, sind Emissionsminderungen in europäischen Fabriken fast ausschließlich durch Effizienzsteigerungen konventioneller Anlagen vorgesehen.

Konventionelle Anlagen neu zu bauen, ist jedoch aufgrund ihrer langen Lebensdauer von durchschnittlich 40 Jahren und im Hinblick auf das im European Green Deal formulierte Ziel der Klimaneutralität 2050 keine nachhaltige Strategie, wie die Studie zeigt. Stattdessen sollten Industrieunternehmen schon im nächsten Investitionszyklus in klimaneutrale Schlüsseltechnologien investieren.

„Kurzfristige Erfolge nicht über nachhaltige Emissionsminderungen stellen“

Die Studie zeigt, dass Investitionen in konventionelle Anlagen das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 konterkarieren: Spätestens dann dürfen nur noch klimaneutrale Anlagen laufen, damit die Industrieemissionen auf null sinken. Entsprechend stehen konventionelle Industrieanlagen in den 2040ern vor dem Aus. Solche, die also in den 2020ern gebaut werden, erreichen nicht mehr ihr technisches Lebensende.

„Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob Industrieunternehmen überhaupt noch in den Standort Europa investieren“, sagt Frank Peter, stellvertretender Direktor von Agora Energiewende. Dabei gebe es in den kommenden zehn Jahren einen hohen Reinvestitionsbedarf, und viele klimaneutrale Schlüsseltechnologien seien schon vor 2030 einsatzbereit.

„Wir laufen gerade Gefahr, dass die EU kurzfristige Emissionsminderungserfolge in der europäischen Stahl-, Zement- und Chemieindustrie über langfristige Klimaziele stellt. Dabei ist bei der nachhaltigen Umstellung auf klimaneutrale Industrieprozesse der Weitblick entscheidend“, erklärt Peter. „Industrieanlagen haben eine Lebensdauer von bis zu 70 Jahren – das heißt, Investitionen in rein konventionelle Anlagen sind bereits heute nicht mehr kompatibel mit dem langfristigen Ziel der Klimaneutralität.“

Um Investitionsruinen zu vermeiden, müsse die Entscheidung deshalb fortan auf die klimaneutrale Innovation fallen. Nur so würde sowohl das 2030er- als auch das 2050er-Klimaziel der EU erreicht werden.

Was können Stahl-, Chemie- und Zementindustrie tun?

Bei einem erhöhten 2030-Klimaziel von mindestens 55 Prozent müssten die Treibhausgasemissionen der energieintensiven Industrien, die unter den europäischen Emissionshandel fallen, bis 2030 um 27 Prozent gegenüber 2019 zurückgehen. Das entspricht rund 140 Millionen Tonnen CO2. Laut Agora-Studie könnten die energieintensiven Unternehmen eine Minderung in Höhe von 145 Millionen Tonnen CO2 allein dadurch erzielen, dass sie konsequent in klimaneutrale Technik investieren, vor allem bei den anstehenden Reinvestitionen.

  • Die Stahlindustrie könnte bis 2030 bereits ein Drittel von 188 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2017 nachhaltig reduzieren – wenn sie ab sofort von kohlebetriebenen Hochöfen, die das Ende ihrer Laufzeit erreichen, auf Direktreduktionsanlagen umrüstet. Diese Anlagen ließen sich zunächst mit Erdgas betrieben, mit zunehmender Verfügbarkeit könnte dann auf klimaneutralen Wasserstoff umgestellt werden.

  • In Chemiewerken wird die Umstellung auf elektrische Wärmeerzeugung anstelle von erdgasbetriebenen Dampfkesseln wichtig. Bei einem beschleunigten Kohleausstieg – wie im „Impact Assessment“ der Kommission angenommen – würde der europäische Strommix 2030 wesentlich sauberer werden und Strom entsprechend klimafreundlicher als Erdgas. Durch die Umstellung auf das sogenannte Power-to-Heat-Verfahren könnte die Chemieindustrie laut Agora-Berechnung ein Fünftel ihrer CO2-Emissionen einsparen.

  • Für die klimaneutrale Zementproduktion ist der Aufbau einer Infrastruktur zur CO2-Abscheidung und -Lagerung zentral, das sogenannte Carbon Capture and Storage (CCS). Denn bei der Zementproduktion entsteht während des Klinkerbrennens unvermeidbar CO2. Der Industrie eröffnet sich durch eine CCS-Infrastruktur zudem langfristig die Option, zu negativen Emissionen beizutragen: und zwar, wenn sie CO2-neutrale Biomasse als Brennstoff nutzt und das CO2 anschließend mit CCS-Technik der Atmosphäre entzieht.

Industrieunternehmen fehlt Entscheidungsfreiheit

Industrieunternehmen zeigen zunehmend Interesse an klimaneutraler Technik. Was ihnen aber fehlt, sind die Rahmenbedingungen für ein klimaneutrales Geschäftsmodell, wie Peter erklärt. „Es ist Aufgabe der EU, einen Rahmen für die Investition in klimaneutrale Innovationen zu schaffen.“

Mit der Aussicht auf hohe CO2-Preise, strengere Umweltvorschriften und eine rückläufige Nachfrage nach kohlenstoffintensiven Produkten würden Unternehmen derzeit Investitionen in CO2-intensive Anlagen scheuen. „Unter den aktuellen Bedingungen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihre Investitionen in Länder mit niedrigeren Umweltanforderungen verlagern“, sagt Peter. „So steigen die Industrieemissionen andernorts und europäische Industriestandorte gehen verloren. Die EU sollte daher jetzt das Paket für den klimaneutralen Umbau der energieintensiven Industrie schnüren.“

Die Zusammenfassung „Breakthrough Strategies for Climate-Neutral Industry in Europe“ ist in Zusammenarbeit mit dem Wuppertal-Institut entstanden und in englischer Sprache kostenlos als PDF verfügbar. Die Gesamtfassung soll Anfang 2021 erscheinen.

Verwandte Artikel