Lütze bietet ein breites Produktportfolio mit den Kategorien Cable, Cabinet, Connectivity und Control an – also alles rund um den Schaltschrank. War dieser Schritt zum Lösungsanbieter rund um den Schaltschrank immer Ihr Ziel?
Da muss ich wirklich zu den Gründungsjahren des Unternehmens 1958 zurückgehen. In der Nachkriegszeit hat Deutschland geboomt und mein Vater ist relativ schnell als „Rucksackgroßhändler“ in die Industrie reingekommen und fragte sich sofort: "Okay, wie gehe ich den Markt jetzt an?" Und das war relativ einfach, frag den Kunden was er braucht, frag den Kunden, wo der Schuh drückt. Diese Strategie ist bis heute gültig. Ich kann die tollsten Ideen haben, wenn sie aber mit dem Markt nicht im Einklang sind, dann bringen sie überhaupt nichts. Das bedeutet nicht, dass wir nicht innovativ sind. Was ich damit sagen möchte: Produktverbesserung ist, wenn ich frage: „Was hättest du gerne anders?“ – und der Kunde sagt: „Macht den Knopf dorthin, anstelle dort.“ Wenn ich aber gar keinen Knopf mehr hinmache, sondern ein Touchdisplay, dann sprechen wir von Innovation. Ich muss aber wissen, was der Markt braucht und was der Markt möchte - auch wenn es der Markt selber noch nicht weiß. Und das ist die trickreiche Sache hier. Die Produktbereiche, die wir haben, sind alle aus diesem Lösungsansatz entstanden. Es war nie unser Anspruch, dass wir in allen Bereichen ein komplett breites Produktspektrum haben, sondern uns Spezialgebiete aussuchen, in denen wir richtig gut sind. Und dann ist es natürlich wichtig, dass die Produktbereiche auch harmonisch miteinander arbeiten. Denn wenn ein Kunde ein Verdrahtungssystem für den Schaltschrank will, können wir ihm auch gleich noch Netzgeräte oder Ethernet-Leitungen liefern, wenn ihm das dann die Arbeit erleichtert und ihm eine schnellere Time-to-Market ermöglicht.
Sie fokussieren dabei aber immer auf die Kernbereiche rund um den Schaltschrank?
Ja! Denn wenn ich ein zu breites Produktspektrum habe, dann ist die Gefahr extrem groß, dass ich versuche, alles zu machen - und zum Schluss nichts richtig gut mache. Und deswegen fokussieren wir ganz klar auf gewisse Bereiche. Für mich ist das wichtigste Wort im Vertrieb deshalb auch „Nein“ und dass wir gezielt sagen „Das machen wir nicht!“ Warum? Dann kann ich meine Ressourcen dort effizient einsetzen, wo wir unsere Kernkompetenz haben und dem Kunden den größten Nutzen bringen. Außerdem lassen wir unsere Kunden ja nicht allein, sondern empfehlen bewährte Partnerlösungen, falls wir selbst keine Lösung im Angebot haben.
Wenn es um Ihre Kernkompetenz geht, dann fällt einem sofort das Schaltschrankverdrahtungssystem Airstream ein. Können Sie kurz das Potenzial der kanallosen Verdrahtungslösung zusammenfassen?
Mit Airstream gestalten wir den gesamten Aufbau eines Schaltschrankes effizienter. Die Lösung basiert auf einem fertigen Rahmen, es muss nichts gebohrt, geschraubt oder bearbeitet werden. Ich montiere alle Komponenten auf den Schienen und kann sie schnell und effizient verdrahten – das ist ein extrem wichtiger Zeitfaktor. Dann ermöglicht Airstream eine viel kompaktere Bauweise, weil die Kabelkanäle bei unserem System entfallen. Und der dritte große Vorteil ist natürlich, dass die Luft im Schaltschrank zirkulieren kann. Durch das Wegfallen der Kabelkanäle kann ich dafür sorgen, dass die zirkulierende Luft auch tatsächlich an die Einzelkomponenten kommt. Wenn heutzutage ein Schaltschrank, egal in welcher Form, konzipiert wird, so sieht man beim Thema Kühlung nur eine Verlustleistung X, die durch die Komponenten entsteht und über eine Kühlleistung Y „entsorgt“ wird. Nur was bringt es mir, wenn ich Kühlleistung reinbringe, diese aber komplett an den Hotspots vorbeigeht, weil die irgendwo hinter den Kabelkanälen versteckt sich aufheizen. Wir schaffen es mit Airstream, durch die Luftzirkulation im Schaltschrank die Hotspots automatisch zu entschärfen - das Klima wird homogener. Und das ist ein ganz großer Vorteil, den es außer bei Airstream nirgends gibt.
Kunden sehen Schaltschrankkühlung aber oft wie das lästige Thema Backup – niemand will sich damit befassen, aber es muss sein. Stimmen Sie dieser Interpretation zu und müssen Sie noch immer viel Überzeugungsarbeit für effizientes Kühlen leisten?
Also Wärmegenerierung im Schaltschrank ist ein Problem, das hat jeder, egal wie groß oder wie klein die Anlage ist, egal wie viel oder wie wenig Strom dort fließt. Viele machen den Fehler, dass sie überdimensionierte Klimageräte auf dem Schaltschrank haben und diese permanent laufen lassen. Das kostet Energie, das kostet Wartung und somit unnötig viel Geld. Mit Airstream können wir zeigen, wie man viel Geld spart und gleichzeitig viel effizienter und sicherer für ein gutes Klima im Schaltschrank sorgt. Im Rahmen der Digitalisierung haben wir unser Online-Tool Airtemp entwickelt, welches wir zur freien Nutzung anbieten. In diesem Simulationstool wird der Schaltschrank nicht mehr als homogene Masse betrachtet, sondern wir haben eine Aufteilung in drei Zonen – unten, in der Mitte und oben – mit den Verlustleistungen der dort platzierten Komponenten. Das Tool berücksichtigt die Außentemperatur, Flächen zur Abstrahlung, welche gewünschte Temperatur im Schaltschrank herrschen soll und was für Kühlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Hier sieht der Kunde dann sehr schnell, wo Hotspots entstehen und wie einfach diese über unsere Airstream-Lösung vermieden werden können – und das oft ohne externe Klimageräte. Oder die Simulation ergibt, ein Klimagerät muss nur im Sommer ab bestimmten Außentemperaturen laufen, und nicht das ganze Jahr.
Kann sich der Kunde nach der Simulation auch gleich die passende Airstream-Lösung einfach konfigurieren?
Natürlich! Das ist bei uns auch ein ganz klares Ziel der Digitalisierung, es dem Kunden möglichst einfach zu machen. Nach der thermischen Simulation mit Airtemp lässt sich über den Airstream-Konfigurator der Verdrahtungsrahmen aufbauen. Der Konfigurator funktioniert selbsterklärend und am Schluss erhält der Kunde eine Zeichnung, die er in das eigene Planungssystem übernehmen kann. Außerdem lassen sich die konfigurierten Komponenten dann über den Konfigurator direkt bei Lütze bestellen. Weil unser Airstream-System konsequent modular ausgelegt ist, können Kunden sich auch größere Stückzahlen der einzelnen Module ins Regal legen. Die Montage eines Rahmens ist im Vergleich zur Montagetafel bei Airstream kein großer Zeitaufwand. Schaltschrankbauer können dann ähnlich wie bei Lego den Schaltschrankrahmen sehr individuell bestücken, verdrahten und in den Schaltschrank einbauen. Der Durchsatz an Schaltschränken lässt sich so enorm steigern.
Kunden profitieren mit Airtemp sowie dem Airstream-Konfigurator bereits von ersten digitalen Angeboten. Doch wie weit ist Ihr eigenes Unternehmen inzwischen
digitalisiert?
Obwohl wir mitten drin sind, sind wir vom Gefühl her erst am Anfang. Und ich sage Ihnen, warum ich das sage! Digitalisierung funktioniert für mich erst dann, wenn das Unternehmen komplett digitalisiert wurde. Was meine ich damit? Das bedeutet, dass die gesamten Prozesse digitalisiert und über Schnittstellen mit der digitalen Welt draußen verbunden sind. Wenn ich mir Amazon anschaue, das ist ein digitales Unternehmen, aber das ist nicht unsere Welt. Und deswegen sage ich, im Augenblick ist noch kein Industrieunternehmen komplett digitalisiert. Das ist aber unser Ziel, denn ich persönlich sehe das reine Geschäftsmodell als Komponentenhersteller und Lieferant als ein Auslaufmodell, das in der Zukunft keine Zukunft mehr haben wird. Die Digitalisierung ist die Zukunft, und das „Andocken“ an die digitale Welt ist die eigentliche Herausforderung. Wir müssen intern die Prozesse also so digitalisieren, egal ob im Marketing, Vertrieb oder Fertigung, dass man sich schnell den allgemeinen digitalen Trends und Schnittstellen anpassen kann. Das ist für Industrieunternehmen die große Herausforderung, digitale Schnittstellen zu definieren, zu finden und auf Systeme zu setzen, wo ich dann wirklich agil bin und schnell reagieren kann.
Sie haben gerade Agilität erwähnt – ein wichtiges Merkmal bei der Digitalisierung. Wie beweglich ist denn Ihr Unternehmen?
Als Familienunternehmen mit kurzen Entscheidungswegen, sind wir generell agiler als beispielsweise ein Großkonzern. Aber: Wir sind noch nicht so beweglich, wie wir es sein wollen. Das ist ein Ziel, an dem wir permanent arbeiten und wo wir noch viel Potenzial haben. Denn auch hier messe ich mich beispielsweise bei der Liefer-Performance mit Amazon. Und davon sind wir noch weit entfernt, aber da stehen wir nicht alleine. Dennoch müssen wir mental in genau diese Richtung gehen. Wir dürfen uns nicht nur am Markt messen, sonst sind wir immer ein paar Schritte zurück.
Welches Potenzial sehen Sie denn bei Ihren Produkten, um zusätzliche digitale Services anzubieten?
Bei der Frage nach der Digitalisierung von Produkten ziehe ich immer den Vergleich zum Big Mac von McDonalds, den es schon seit den 60er Jahren unverändert gibt. Dennoch wurde er komplett digitalisiert, er lässt sich digital bestellen, konfigurieren und bezahlen. Und das ist die gleiche Betrachtung, die wir bei Lütze auch machen. In diesem Prozess muss man sich fragen, was für eine Existenzberechtigung hat ein Produkt in einer digitalen Welt und wie bringt es einen Mehrwert für den Kunden. Oft hat Digitalisierung dabei mit dem Produkt selbst relativ wenig zu tun. Es geht vielmehr um die Werkzeuge, die ich unseren Kunden anbiete, damit sie dieses Produkt effizienter einsetzen können. Hier sprechen wir zum Beispiel von logistischen Lösungen, Konfiguratoren, Informationsquellen oder Datenmodellen.
Wenn ich Sie frage, warum Kunden Lütze als Partner für die Automatisierung wählen sollten, was antworten Sie dann?
Weil wir ein verlässlicher Partner sind, und nicht nur ein Lieferant. Das ist die Kernaussage. Uns geht es nicht darum, das Maximale aus jeder Kundenbeziehung herauszuholen, für mich ist Nachhaltigkeit ganz wichtig. Wir verwenden nur langlebige und umweltschonende Materialien. Und unsere Produkte helfen wiederum unseren Kunden, Energie und Ressourcen einzusparen. Wir sorgen mit unseren Lösungen wie Airstream für eine effiziente Befüllung von Schaltschränken, so dass unsere Kunden Platz, Zeit, Energie und somit Kosten sparen. Mein Ziel ist immer, dass uns Kunden bei neuen Projekten von Anfang an als Partner sehen, um gemeinsam voranzukommen.