P&A:
Mit welchen Herausforderungen haben Ingenieure im Engineering zu kämpfen?
Uwe Vogt:
Als wichtigste Herausforderung sehen wir die Notwendigkeit zur Parallelisierung der verschiedenen Disziplinen, um Zeit zu sparen; und dazu die Fähigkeit, alle Änderungen in einem parallelen Designprozess sicher und transparent handhaben zu können. Ein weiterer Aspekt ist die Qualität, die unter dem zunehmenden Zeit- und Kostendruck nicht leiden darf. Ein fast ebenso wichtiger Punkt ist die Nutzung der kostbaren Anlagendaten für weitere Anwendungen, wie Predictive Maintenance.
Pouria G. Bigvand:
Um das zu erreichen, muss Engineering Daten-getrieben sein, nicht Dokumenten-orientiert. Und es sollte so umfassend wie möglich die Aufgaben des Anlagen-Engineerings umsetzen können, denn Toolketten kosten Fehler und viel Zeit.
Aber sind Toolketten wirklich so schlecht? Man hört doch immer wieder von Schnittstellen und Synchronisationsplattformen ...
Bigvand:
Eine Synchronisationsplattform kann immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner des Datenmodels halten. Viele Spezialaufgaben werden datentechnisch nur in den einzelnen Tools behandelt. Dadurch kann so eine Plattform gewisse Abhängigkeiten unter den Details nicht erkennen. Zudem ist ein wirklich paralleles Arbeiten auf denselben Daten nicht möglich, da jeder bis zur nächsten Synchronisation auf „alten“ Daten arbeitet. Das Auflösen von Konflikten bei der späteren Synchronisation wird dann oft sehr komplex.
Und für die Synchronisierung müssten alle Datenbanken auch auf dem gleichen Stand sein ...
Bigvand:
Genau, ansonsten ist eine Synchronisierung unmöglich. Doch solche Anpassungen kosten bei dem heutigen Druck, unter dem reale Projekte stehen, viel zu viel Zeit und Aufwand.
Kommen wir zu den von Ihnen erwähnten Herausforderungen zurück. Wie greift Aucotec diese auf?
Vogt:
Wir haben es mit Engineering Base 2019 (EB) geschafft, dass alle Kerndisziplinen des Anlagen-Engineerings auf nur einer Plattform erarbeitbar sind – auch simultan: von Frontend- (FEED-) über Process- und Detail-Engineering bis zu Wartung und Umbaumaßnahmen im Betrieb. Änderungen erscheinen auf Wunsch automatisch in allen weiteren Repräsentanzen eines geänderten Objekts, alle Abhängigkeiten werden berücksichtigt. Das fast unendlich erweiterbare Modell in EB kann zusätzlich Aspekte wie die Konfiguration von Leit- und Predictive-Maintenance-Systemen abdecken.
Statt Toolketten simultanes Arbeiten ...
Vogt:
Richtig. In den unterschiedlichen Phasen des Anlagen-Engineerings arbeiten verschiedene Teams. Nachgelagerte Disziplinen setzten auf die Ergebnisse vorheriger auf. Das bedeutet oft: warten! Simultanes Arbeiten kann den Gesamtprozess erheblich beschleunigen.
Die Plattform Engineering Base ist kein neues Produkt. Die Entwicklungen gehen auf mehr als 15 Jahre zurück. In den vergangenen sechs Jahren hat Aucotec knapp 80 Prozent des Neugeschäfts mit EB getätigt. Wie unterscheidet sich EB von dem Angebot Ihrer Wettbewerber?
Vogt:
Die Kunden haben verstanden, dass eine übergreifende Plattform, ohne Mehrfacheingaben, Schnittstellen und Synchronisationen, erhebliche Vorteile bringt. EBs Herangehensweise wird dem „Öl des 21. Jahrhunderts“ als erstes System wirklich gerecht.
Herr Vogt, Sie sprechen hier vom „Öl des 21. Jahrhunderts“, auf der Achema-Pressekonferenz haben Sie gesagt, dass Aucotec mit EB nicht alte Kutschen durch ein paar mehr Pferde beschleunigen, sondern das Anlagen-Engineering motorisieren wollte. Wie meinen Sie das genau?
Vogt:
Einzelne, meist dateibasierte Tools für eine Disziplin aufzufrischen mit weiteren Funktionen und Schnittstellen zu Architektur-ähnlichen Tools für andere Disziplinen bringt dem Anwender sicher Vorteile. Das entspräche sozusagen weiteren Pferden im Kutschen-Gespann. Doch das wirklich parallele, gleichzeitige Arbeiten verschiedener Teams und Disziplinen auf einer durchgängigen Plattform und einem universellen Datenmodell kann bei angepassten Prozessen nicht nur das Engineering insgesamt drastisch verkürzen, sondern auch die Bau- und Inbetriebnahme-Phase, da gleichzeitig die Datenqualität verbessert ist. Zusätzlich können bereits bei der Anlagen-Konzeption Aspekte im Datenmodell mitbehandelt werden, die beispielsweise später im Betrieb datengetriebene PdM-Ansätze ermöglichen. Insgesamt wird dadurch eine ganz andere Dimension von Nutzen erreicht, die quasi dem Entwicklungssprung von der Pferdekutsche zu einem Sportwagen entspricht.
Sie haben bereits auf der Hannover Messe im April eine Vor-Pressekonferenz für die Achema zu der Erweiterung der Engineering Base abgehalten. Haben Sie mit dem Zeitpunkt nicht für eine ziemliche Überraschung gesorgt?
Vogt:
Ja, ich denke schon. Es war schwierig, die Erweiterungen vertraulich zu behandeln, aber wir wollten rechtzeitig vor der Achema erklären, was für einen enormen Entwicklungssprung EB gemacht hat. Da war die Hannover Messe der ideale Zeitpunkt. Die überwältigende Resonanz mit mehr als doppelt so viel Gesprächen am Stand wie zur Achema 2015 bestätigt uns das - trotz etwa 15 Prozent weniger Messe-Besuchern dieses Jahr!
Schauen wir uns Engineering Base 2019 im Detail an. Welche Neuheiten bietet die Plattform nach seiner Erweiterung?
Bigvand:
Zunächst eine umfassende Unterstützung bereits für Konzept-Designer in der FEED-Phase: Integration von Simulationsdaten, Szenarien-Management, -Vergleich und -Dokumentation. Dann datenbasiertes, objektorientiertes R&I-Design inklusive Regelbasierung, ausgefeilten Assistenten und Automatismen zur Rohrklassendefinition, Spezifikations-getriebenem Arbeiten, Integration von Zulieferer-Daten, aber auch von verschiedenen Betriebs-Zuständen einer Anlage. Dazu kommen eine auf Knopfdruck erstellbare Cause-&-Effect-Matrix für das Verfahrens-Management, smarte System Control Diagrams, die Maintenance-App für eine konsistentere Anlagen-Dokumentation im Betrieb, weitere Integrationen im 3D-Umfeld und die auf künstlicher Intelligenz basierende Suchmaschinen-Unterstützung. Ein Highlight ist zudem das DCS-Portal, eine universelle Brücke zwischen der Engineering-Phase und den Automationssystemen. Und last but not least bietet EB 2019 die komplette Datenmodell-Historie, die für jede Objekt-Ebene aufzeigt, wer was wann geändert hat.
Der Begriff Durchgängigkeit fällt häufig im Zusammenhang mit lückenlosem Informationsfluss. Bei EB bezieht sich der Begriff jedoch darauf, dass sämtliche Kerndisziplinen des Anlagen-Engineerings mit einem universellen Datenmodell in einer Datenbank vereint sind. Ist das die neue, zukünftige Definition von Durchgängkeit?
Vogt:
Ja, zumindest nach unserem Verständnis: Im Engineering mit EB gibt es keinen Fluss mehr, auf dem die Informationen nach und nach zu den Beteiligten fließen. Hier gibt es einen Informationspool, oder, um im Bild zu bleiben, einen See, aus dem jeder von jedem Uferstück jederzeit seine Informationen herausfischen oder neue hineinwerfen kann, und alle anderen „See-Anrainer“, also Kerndisziplinen, profitieren unmittelbar von diesem immer verfügbaren Pool.
Nehmen wir die Kerndisziplinen Maintenance und Leitsystemprogrammierung. Wie unterstützt EB in diesen Bereichen?
Bigvand:
EB bietet das komplette Anlagendatenmodell inklusive der gesamten Wartungs-Dokumentation. Außerdem bietet EB eine Wartungs-App, die direkt auf die Engineeringdaten zugreifen kann und die täglichen Aufgaben managt. So ist eine durchgängige As-built Dokumentation sichergestellt. Für die Leitsystemprogrammierung bietet EB das DCS-Portal (Distributed Control System), als konfigurierbare Brücke zwischen den Engineeringdaten und verschiedenen DCS-Tools. Damit lassen sich Design-Informationen sogar gleichzeitig an unterschiedliche Leitsysteme mit unterschiedlichen Konfigurationen übergeben. Das Portal unterstützt auch den Standard NE150 AutomationML.
Alle Projektierungsdaten werden in einer Datenbank abgelegt – wo liegt diese Datenbank? Und wie werden die Projektierungsdaten vor Angriffen geschützt, wer hat Zugriff auf die Daten?
Bigvand:
Da EBs Systemarchitektur flexibel ist, kann die Datenbank auf einem Einzelrechner liegen oder in einer Cloud-Umgebung, die Infrastructure oder Software as a Service (Iaas/SaaS) ermöglicht. Zugangsberechtigungen lassen sich individuell und auf unterschiedlichen Ebenen konfigurieren. Jedes Diagramm kann eigene Zugangsberechtigungen haben. In einem Projekt und in der Datenbank kann der Systemadminstrator verschiedene Befugnisse für unterschiedliche Usergruppen oder Einzeluser bereitstellen.
Autotec wirbt damit, dass sich mit EB der Zeitdruck – Schlagwort: Time-to-Market – reduzieren lässt. Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel mit Zahlen?
Vogt:
Für aktuelle Zahlen dieser neuen Lösung ist es ja noch zu früh, aber von Energienetz- bis Maschinen- und Anlagenbau sprechen Kunden schon bei EBs früheren Versionen von 20 bis 30 Prozent Projekt-Beschleunigung. Ein kleinerer Automatisierungs-Spezialist sogar von 40 Prozent. Unsere Proof-of-Concept-Ergebnisse liegen meist ebenfalls in diesem Bereich, sind also sehr realistisch. EBs neue Bandbreite wird in Teilen sicher darüber hinausgehende Ergebnisse liefern.
Industrie 4.0 und Smart Factory sind in aller Munde. Welche Charakteristika erfüllt EB dafür?
Vogt:
Für die Digitalisierung im Sinne von Industrie 4.0 sind vollständige Datenmodelle der Maschine beziehungsweise Anlage erforderlich. Aus unserer Sicht besteht ein vollkommener digitaler Anlagen-Zwilling daher nicht nur aus dem digitalen Body – also dem Abbild der Mechanik – sondern dazu gehört auch die digitale „Seele“, das heißt alle Logiken und Vernetzungen. Letztere werden mit unserem durchgängigen und erweiterbaren Datenmodell komplett abgebildet.
Bigvand:
EB ist Enabler für Industrie-4.0-Projekte. Für viele ist I 4.0 eine Voraussetzung, um bei künftigem Komplexitäts- und Zeitdruck nicht nur mithalten, sondern vorweg gehen zu können.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Themen könnten für das Engineering wichtig werden, wie könnte EB den User da unterstützen?
Vogt:
Anlagen und ihr Engineering werden künftig noch stärker modularisiert. Also werden moderne Systeme noch mehr konfigurierbare Module samt Optionen und Varianten abbilden müssen. Da EBs Datenmodell erweiterbar ist, kann es dabei unbegrenzt unterstützen.
Auch mobile Applikationen werden an Bedeutung gewinnen ...
Vogt:
Genau, die Themen Cloud und Apps sind ein weiterer Trend. Engineering-Systeme sind heute üblicherweise komplexe Programme, die auf Workingstations installiert und betrieben werden. Mobile Applikationen laufen auf Browsern und damit weitgehend Betriebssystem-unabhängig, ihre Daten beziehen sie aus der Cloud. EB unterstützt dies durch seine Mehrschicht-Architektur mit serverseitigen Webservices bereits heute.